Erzählungen
Abendmahls ein leichtgesetztes ›Ave verum‹ von Mozart.
Die Predigt war auf zehn Uhr angesetzt. Einige Minuten vorher wurden meine Kameraden hereingeführt. Sie schwatzten laut im Gang. Sobald sie eingetreten waren, verstummten sie. Ich begann zu spielen und wandte mich auch nicht um, als der Direktor mit seiner Frau und seinem Sohne eintrat. Es war noch jemand bei ihnen. ›Irgendein Besuch‹, dachte ich.
Ich spielte weiter, begleitet von Hüsteln, Schneuzen, Bankrücken. Die Familie des Direktors hatte hinter meinem Rücken auf einer Bank neben der Kanzel Platz genommen. Dann trat der Pfarrer ein, der alte mit dem weissen Schnurrbart, der so gern jasste und Wein trank. Es war eine unbekannte Freudigkeit in mir. Ich fand den Pfarrer gar nicht mehr komisch. Da fühlte ich einen Blick auf meinem Rücken, einen Blick, der mich zu rufen schien, und ich wandte mich um.
Der Direktor, seine Frau und sein Sohn sassen an demeinen Ende der Bank. Am anderen Ende sass eine einsame Gestalt. Einsam schien sie zu sein, obwohl sie mitten unter uns war. Ein ganz gewöhnlicher Mensch, dachte ich. Er war ziemlich jung, glattrasiert, mit nach hinten gekämmtem Haar, das die Ohren frei liess, aber den Nacken verdeckte und den Kragen des grauen Rockes berührte. Graue Pumphosen (Knickerbocker nennt man sie, glaub' ich), graue Wadenstrümpfe, graue Wildlederschuhe mit Gummisohlen. Ich nahm das alles mit einem Blick auf, denn ich fühlte, für mehr als einen Blick blieb mir keine Zeit: Ich musste die Augen suchen. Suchen? Sie waren auf mich gerichtet. Die Augen grüssten mich, der Fremde nickte, nicht mitleidig, nein so, als wolle er sagen: ›Ich weiss, ich weiss.‹ Natürlich musste er wissen.
Während der alte Pfarrer oben auf der Kanzel das Weihnachtsevangelium las, musste ich immer wieder zu diesem fremden Mann hinüberschielen. Er hatte das Kinn auf die Brust gelegt (sein Hemd stand vorne offen, er trug keine Krawatte), die Hände um das linke Knie gefaltet. Der Fuss pendelte leicht auf und ab. Während des Gebetes blieb er in derselben Haltung sitzen. Ich spielte sehr schlecht und war froh, dass es bekannte Lieder waren. Die lauten Stimmen übertönten meine falsche Begleitung.
Gewöhnlich blieb ich während der Predigt auf dem Stuhl sitzen. Heute stand ich auf und setzte mich auf einen freien Platz in der ersten Bank, um den Fremden sehen zu können. Er blickte nur einmal auf, und ich erkannte sein Gesicht kaum wieder. Es war verzerrt, so, als müsse er einen unerträglichen Schmerz erleiden.
Die Predigt war zu Ende. Ich spielte das Schlusslied:
›Wenn alle untreu werden ...‹
Dann stand der Oberaufseher vor den Bänken und sagte laut: ›Die Sträflinge, die am heiligen Abendmahl teilnehmen wollen, mögen sitzen bleiben. Die anderen sollen aufstehen und ruhig hinausgehen.‹ Ich hörte noch das Knarren der Kanzeltreppe unter den schweren Schritten des Pfarrers. ›Halt!‹ rief plötzlich eine Stimme. Der Fremde stand aufrechtvor der Bank. Die bleichen entblössten Hände schimmerten neben seinem Kopf. Doch er liess die Arme herabfallen und ging wieder an seinen Platz zurück. Die Kapelle leerte sich. Etwa zwanzig Mann blieben in den Bänken sitzen. Der Pfarrer las die Liturgie. Die Frau des Direktors nahm ein Stück Brot aus der Hand des Pfarrers, ergriff den Kelch und trank. Der Direktor hob den einen Kelch auf, sein Sohn den anderen. Beide stellten sich an der Schmalseite des Tisches auf. Ihre Gesichter waren ausdruckslos.
Die ersten Sträflinge schlurften scheu heran. Der Fremde hatte sein Gesicht in seine Hände gelegt. Ich sah, dass er zitterte. Vielleicht war es die Kälte.
Leise begann ich das ›Ave verum‹ zu spielen, zog die Töne in die Länge, denn nach jeder Note, die ich abgelesen hatte, wandte ich mich um. ›Er kann das alles doch nicht dulden!‹ dachte ich. Die Freude von vorher hatte sich in Angst verwandelt. Aber es war eine Angst, die ich noch nicht kannte. ›Halt!‹ sagte da wieder eine Stimme hinter mir. Mit weitausholenden Schritten trat der Fremde an den Tisch.
›Gehen Sie‹, sagte er zum Pfarrer. ›Sie auch.‹ Er winkte dem Direktor. Auch der Sohn stellte seinen Becher ab. Die drei gingen nach der hintersten Bank, setzten sich dort und blieben starr. Der Fremde winkte mir, und ich trat zu ihm. Dann stützte er die beiden weissen Hände auf das Tischtuch und blickte mit weitgeöffneten Augen in den Raum. Er schien jeden einzelnen zuerst forschend zu betrachten. Sein Kopf bewegte
Weitere Kostenlose Bücher