Erzählungen
Pfarrers musste ich oft das Lachen verbeissen. Er predigte zwar hinter meinem Rücken, von der Kanzel, so dass ich ihn nicht sehen konnte, aber er hatte eine Art, das Wort ›Geist‹ auszusprechen (er sagte ›Geischt‹), die komisch wirkte. Meistens gab er das Abendmahl. Dann stand ein weissgedeckter Tisch neben dem Harmonium, darauf zwei zinnerne Becher und eine Platte mit langen Streifen Weissbrot. Der Pfarrer teilte das Brot, die beiden Becher wurden vom Direktor und dessen Sohn gehalten. Beide sahen genau hin, dass niemand einenzu tiefen Schluck aus den Bechern nahm. Die Sträflinge drückten sich scheu am Tisch vorbei. Wie war es wohl damals, als der Herr am Osterfest den Wein verteilte und das Brot brach?
Knapp vor Weihnachten wurde ich beim Rauchen erwischt. Der Sommer war gnädig vorbeigegangen, und die Ernte auf den weiten Feldern hatte mich wahrhaft glücklich gemacht. Aber dann kam der Winter mit seinen grauen Regenwochen und den düsteren Sonntagen in der Zelle. Die Bücher waren ausgelesen, und eine süssliche Stimmung aus Velhagen und Klasing-Romanen zersetzte die Luft. Das Mittagessen lag schwer im Magen. Man ass ja nur aus Langeweile, und der gefüllte Körper begann erwartungsvolle Angst zu produzieren und bedrückende Traurigkeit.
Wieviel nutzlos vergeudete Sehnsucht bringt solch ein Nachmittag hervor. Die tiefstehende Sonne nimmt das Eisengitter im Fenster und wirft es als schwarzes Kreuz auf die Wand, dem Bette gegenüber. Draussen trippelt ein Kind vorbei und singt Vokale, nur Vokale; diese ›A‹ und ›O‹ machen die kalte Luft schneidend.
Kennen Sie die Sehnsucht, die einen manchmal ergreift, wenn man zufällig in einer grossen Stadt niemand kennt und zur Zerstreuung ins Kino geht? Sie sind allein, niemand kümmert sich um Sie. Sie sehen die berühmte Filmdiva auf der Leinwand ihre Faxen machen. Da beginnen Sie von diesem Weib zu träumen, das vielleicht herzlich unbedeutend ist; aber alles ist um sie: Luxus, Reichtum, Leidenschaft. Sie malen sich aus, dass Sie von dieser Frau geliebt werden; und diese Liebe gibt Ihnen jenes Selbstvertrauen zurück, das Ihnen die Einsamkeit, das Unbeachtetsein in der grossen Menschenmenge, geraubt hat. Nun, sehen Sie, eine ähnliche Sehnsucht plagte mich. Nicht von einer berühmten Frau geliebt zu werden, o nein, ich sehnte mich nach dem ›Meister‹, nach dem unverstandenen Meister, der sicher irgendwo auf dieser Welt leben musste; und diesem zu dienen, konnte meinem Leben erst den richtigenSinn geben. Ich malte mir aus, dass nur ich den Meister richtig verstehen würde, dass ich mein Leben für ihn hingeben würde; nie wäre ich so feig wie die Jünger des Galiläers: Eher würde ich mich auspeitschen, mich kreuzigen lassen... keine grobe Hand sollte den Meister berühren. Wirklich, ich sehnte mich nach diesem Zustand des Dienens, nach diesem Opfer meiner selbst.
An jenem Sonntagnachmittag klapperten die Riegel der Zellentüre wie gewöhnlich um halb sechs. Die Blechgefässe mit dem Kakao, den Pellkartoffeln und dem Stückchen Käse standen auf einem grossen Holzbrett. Den Käse tauschte ich gegen Tabak um. Um acht Uhr ging das Licht aus, wie gewöhnlich; dann drehte ich mir noch eine Zigarette – als Papier benutzte ich wie alle andern ein Blatt des Neuen Testaments, weil dies Papier dünn war und beim Verbrennen nicht allzu unangenehm. Aber ich hatte nicht lange genug gewartet. Ein Schlüssel klapperte im Schloss, die Nase eines Wärters schnupperte herein. Kein Wort wurde gesprochen. Die Türe flog wieder zu. Ein paar Minuten nur vergingen, dann war der Wärter in der Zelle, der Sohn des Direktors begleitete ihn. Meine Zelle wurde ausgeräumt: Die Bücher aus der Bibliothek verschwanden, ein paar Hefte ›Verbreitung guter Schriften‹, zerfetzte, durchgeschmuggelte Kriminalromane. Dann knallte die Zellentüre wieder zu. Vorher hatte der Sohn noch höhnisch gesagt: ›Zwei Tage Arrest, verschärft.‹ Das hiess: zwei Tage eingesperrt bleiben, ohne jemanden zu sehen, Einzelhaft also, mit einer dünnen Suppe am Mittag und einem Achtel Brot dazu, sonst nichts. Im Grunde ja nichts Furchtbares.
Plötzlich schien mir die Arbeit im Freien, in der Kälte, die Arbeit, die mir oft verleidet gewesen war, ausserordentlich begehrenswert. Nur nicht allein sein, allein, den ganzen Tag. Ich fühlte mich wieder ganz klein wie damals: Der Vater hatte mir Prügel versprochen, aber er schob die Exekution zwei Tage auf, um auch die Angst wirken zu lassen. Gegen
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