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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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diese Angst, die aus der Vergangenheit aufstieg, war ich machtlos. Schlug ich Lärm, so wurde ich in den Dunkelarrestgeführt. Ach, Sie wissen eben nicht, was es heisst, der Macht ausgeliefert zu sein. Unter mir im Dunkelarrest lärmte ein Verrückter. Ich legte mich aufs Bett und versuchte einige Methoden der Ablenkung. Das laute Sprechen von Versen: Es war so nutzlos wie das Heruntersagen des Rosenkranzes in verschiedenen Sprachen – Deutsch, Lateinisch, Französisch.
    Dann war ich plötzlich gar nicht mehr in meiner Zelle. Ich schlich mit dem baltischen Baron, einem kahlen Männchen (Hochstapelei) durch die Gänge, befreite die Gefangenen. Der Direktor wurde überfallen, seine Frau, dann die Dienstmädchen. Sie mussten uns entschädigen für die vielen leeren Nächte. Die Telephonleitungen wurden durchschnitten. Wir organisieren. Ein Sträflingsrat wird gebildet; der baltische Baron und ich, wir kommandieren. Nur wir tragen Waffen, die Revolver der Wärter.
    Ein Festmahl. Schweine werden geschlachtet. Der Direktor hat viel Wein im Keller.
    Infanterie rückt an. Eine Kompagnie nur. Wir überfallen sie. Der Baron hat in der Weissen Armee gekämpft. Er weiss Überfälle ohne Waffen zu organisieren. Wir siegen, ziehen weiter, auf die Hauptstadt zu, besetzen die Kasernen, plündern, der Sträflingsrat hat die Herrschaft.
    Nein, glauben Sie mir, ich habe nicht geschlafen, während ich all dies sah. Ich war wach, ganz wach. Meine Füsse waren kalt, meine Arme gefühllos: Jetzt erst merkte ich, dass ich die Hände unter dem Kopf gefaltet hatte. Nun warf ich sie auf die Bettdecke. Langsam füllten sie sich wieder mit jenem Blut, das sich alles in meinem Kopfe gesammelt zu haben schien.
    Wie soll ich Ihnen deutlich machen, was es heisst, ›in Verzweiflung zu versinken‹? Stets ist die Verzweiflung grundlos, obwohl wir meinen, sie klar begründen zu können. Aber diese Gründe wirken einfach nicht, wenn unser Ich sich verkriecht und sich taub stellt. Ich gab mich auf. Um solche Wachträume zu haben, musste ich schlecht sein, rettungslos verloren, so dachte ich damals. Ich wünschte denTod, der eine graue, sanfte Frau war, die mich rief, als wäre sie meine Mutter. Habe ich Ihnen gesagt, dass meine Mutter gestorben ist, als ich vier Jahre alt war?
    Ich schlief dann ein, das heisst, ich tauchte unter. Es war heller Tag, als ich erwachte. Die Sonne stand schon im Süden. Da kam auch der Wärter und brachte mir eine dünne Suppe. Ich durfte meinen Kübel leeren, Wasser holen. Dann fiel die Türe wieder zu. Ich ass. Das eiserne Fensterkreuz war sehr verlockend. Ich probierte die Festigkeit meiner Hosenträger. Sie waren breit und gaben nur wenig nach. Es würde nicht weh tun. Wissen Sie, ich bin sehr feig und habe grosse Angst vor körperlichen Schmerzen. Stimmen klangen im Gang. Dann weiss ich von nichts mehr.
    Verstehen Sie, ich erinnere mich auch heute noch nicht, wie ich es gemacht habe. Manchmal scheint es mir, als sei es gut, wenn manche Erlebnisse ganz ausgelöscht werden. Der Griffel versagt wohl hie und da, der unsere Erinnerungen einzugraben hat. Denn was würde aus uns, wenn vor unseren Augen stets der Film der Vergangenheit abrollen würde? Wir verstehen nicht mehr zu beten. Statt ›Erlöse uns von dem Bösen‹ sollte es heissen ›Erlöse uns von der Vergangenheit‹. Nicht wahr? Aber vielleicht meinte der Zimmermannssohn von Nazareth das gleiche. Ein lautes Poltern weckte mich auf. Ich lag im Krankenzimmer, und aus dem Bett, das mir schräg gegenüberstand, dröhnten dumpfe Schläge. Ich richtete mich auf, um zu sehen, was das Poltern zu bedeuten hatte. Das Bett war auf allen Seiten mit Brettern umgeben. Und der baltische Baron schlug seine Glieder mit aller Kraft gegen das Holz. Dann lag er wieder ruhig. Mund und Augen waren fest geschlossen, und auf dem fast nackten Körper waren die Muskeln derart angespannt, dass ich Angst bekam, die Haut könne jeden Augenblick Risse bekommen. Immer mehr spannten sich die Muskeln, der Krampf wuchs, in der Stille hörte ich die Zähne des Besessenen knirschen. Da hob sich sein Körper plötzlich, bildete einen schönen flachgewölbten Bogen und ruhte nur noch auf Hinterkopf und Fersen. Dann zerbrach der Bogen.Der Kopf wurde hin und her geschleudert, prallte ab von den Holzwänden, die Ellbogen dröhnten gegen die Bretter, die Fäuste hämmerten gegen das summende Holz. Und trotz des Lärms hörte ich den Atem durch den schmalen Spalt der Lippen pfeifen.
    In der Türe stand

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