Erzählungen
Körpergestalt aber war eher dürftig: mittelgross, sehr mager, mit hängenden Schultern und konkavem Brustkasten; ein weisser Spitzbart verlängerte das knochige Gesicht. Onkel Léon hustete viel und trug bis in den Juni hinein einen schweren Pelzmantel, den er vorne offen hielt, die Fäuste tief in den Hosentaschen vergraben. Und die Notabeln des Dorfes, der Bürgermeister – ein Genfer Aristokrat, der wie ein pommerscher Krautjunker aussah –, der Gemeindeschreiber, Herr Corbaz, der zugleich Lehrer und Leiter des Gemischten Chores war, die Mitglieder des Gemeinderates, voran der Gastwirt Raymond und der Schmied Vuillettaz, grüssten von ferne ehrerbietig den Herrn Doktor – saluaient de fort loin Monsieur le Chevalier, an diesen Vers Henri de Regniers musste man unwillkürlich denken –, und als Antwort wurde ihnen ein kurzes Nicken des stets hutlosen Hauptes zuteil.
Es war erstaunlich, dass man ihn immer noch grüsste, den Dr. Léon Courvoisier, denn seine Glanzzeit war vorbei, seit der neue Arzt, Dr. Trémoillère, sich in Jussy niedergelassen hatte. Aber nicht von der Rivalität zwischen diesen beiden Ärzten möchte ich erzählen, sondern von den Umständen, die den Tod meines Onkels herbeigeführt haben. Denn er ist wirklich an Kummer gestorben; aber das Merkwürdige ist, dass das Schicksal oder die höhere Macht ihm denerduldeten Kummer scheinbar hoch angerechnet hat. Sein Tod war schön, er wirkte auf uns wie ein Geschenk, und eine Eule spielte dabei eine merkwürdige Rolle. Es ist aber notwendig, vorerst von den Kümmernissen zu erzählen.
Onkel Léon war katholisch, hatte in Löwen studiert und war dann nach Genf gekommen. Dort hatte er sich in die Tochter eines angesehenen Bürgers verliebt, dessen Name unwichtig ist, der aber mit vielen Kindern gesegnet war. Dr. Courvoisier heiratete, nachdem er sicher war, die Stelle als Gemeindearzt in Jussy zu erhalten. Die Bedingungen waren günstig: Ein Haus wurde ihm zur Verfügung gestellt, dazu ein jährliches Fixum. Die Privatpraxis erstreckte sich über die französische Grenze bis nach Savoyen hinein. Das war in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.
Die Ehe blieb kinderlos, und meine Tante Amélie begann sich zu langweilen. Sie hatte eine hübsche Stimme und begleitete selbst die Lieder, die sie sang – aber auf die Dauer genügte ihr das nicht. So kam es, dass das Ehepaar ein kleines Mädchen von fünf Jahren zu sich nahm. Berthe sah zerrauft und vernachlässigt aus, als sie ins Doktorhaus kam, denn sie war ziemlich heftig in der Welt herumgeschupft worden. Sie entstammte nämlich einer kurzen Liebschaft des ältesten Bruders meiner Tante Amélie mit einem Modell (der Bruder war, glaub' ich, Bildhauer gewesen, Schüler von Rodin, aber er verkam dann), und das Kind wanderte eine Zeitlang von Hand zu Hand: Von einer Pariser Portierfamilie zu Weinbauern in der Provence – die Mutter hatte eine ausgedehnte Verwandtschaft –, dann wollte es plötzlich niemand mehr, den Vater ergriff eine späte Reue, er schrieb an seine Schwester – kurz, Berthe kam nach Jussy, Tante Amélie war nicht mehr allein, das Mädchen verstand es, den eingenommenen Platz zu behaupten, und blieb.
Als Kind wird Berthe wohl nicht viel anders gewesen sein als später, als ich sie erwachsen sah: Die Haare waren von einem stumpfen Braun, das Gesicht wirkte scharf, vielleicht wegen der farblosen Augen, die Haut wurde auch im Sommer nicht braun, sie blieb bleich. Dies alles zusammen mitdem kühlen, altklugen Gehaben, musste auf die Pflegeeltern aufreizend wirken, weil beide warme, offene Menschen waren. Nun wird ja behauptet, Wesensfremdheit stosse ab, doch ist viel häufiger das Gegenteil der Fall. Sobald der erste Widerstand überwunden ist, wird der Reiz Notwendigkeit. Verschwände der Reiz, so entstünde eine Leere, die ärger wäre, als die zuerst empfundene Störung.
Berthe ging zuerst zu Herrn Corbaz in die Schule. Ihre braunen Zöpfe waren lang und weich. Sie spielte wenig mit den Kindern des Dorfes. Später fuhr sie alle Morgen nach Genf in die Sekundarschule; sie lernte fleissig und eifrig, kam abends zurück und machte still ihre Aufgaben. Sie sang mit Tante Amélie zusammen Duette aus alten Operetten: »Ma mère, j'entends le rigodon ...« oder Volkslieder in Moll: »C'était Anne de Bretagne, duchesse en sabots ...« Das Wohnzimmer war gross, in einer Ecke stand das Spinett, im Winter brannte ein helles Feuer im offenen Kamin, im Sommer stand die Glastüre
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