Erzählungen
sich kaum merklich. Er begann in einem sonderbar fremdländischen Deutsch zu predigen. Die Sätze waren durchaus richtig, aber die Betonung der einzelnen Silben war ungewohnt, und die Vokale sprach er wie ein Engländer.
›Ich sagte nicht, dass Ihr Knechte seid, denn ein Knecht weiss nicht, was sein Herr tut. Ihr aber wisst, was ich von Euch will. Euch habe ich gesagt, dass Ihr Freunde seid. Kommt, einer soll dem andern den Becher reichen. Wir wollen trinken. Ist nicht der Wein mein Blut? Und das gebiete ich Euch, dass Ihr Euch untereinander liebet.‹
Die Männer starrten ihn an. ›Kommt!‹ sagte er ungeduldig. Da verliessen sie die Bänke und sammelten sich im Kreise um den Tisch. Er aber überragte sie alle. Denn er stand aufgerichtet unter ihnen, die sich vor ihm beugten. Ich hatte meinen Kopf an die Schulter des Fremden gelegt, und er duldete es schweigend. Ich dachte an das Märchen vom Demantberg: Er ist eine Meile hoch, eine Meile breit, eine Meile lang. Und alle hundert Jahre wetzt ein Vöglein seinen Schnabel am Berg. Und wenn der ganze Berg abgewetzt ist, ist die erste Sekunde der Ewigkeit vorbei... Da kam die Trauer über mich und die gleiche Verzweiflung wie in jener Nacht. Dann sah ich den baltischen Baron, der mit seinem Kopf gegen das Holz schlug. Aber vor mir war eine hohe Mauer aus grauem Stein. Gegen die stiess ich mit dem Kopf, und sie wich nicht... Da sah ich wieder die Kapelle, der Fremde liess den Becher herumgehen, füllte ihn wieder, wenn er geleert war.
In der hintersten Bank stand der Direktor auf und kam näher. Bevor er dazwischentrat, musste ich meine Antwort haben. Ich packte des Fremden Ellbogen und fragte laut: ›Herr, was soll aber ich?‹ Wer hatte diese Worte schon früher einmal gesprochen?
Er wandte mir das Gesicht zu. Die Stirnhaut hatte tiefe, waagrechte Falten, und auch um den Mund waren Falten ... Das Antlitz schien uralt und traurig. Dann wurde es wieder glatt und jung, und mit einem Lächeln sprach der Mund:
›So ich will, dass du bleibest, bis ich komme, was geht's dich an?‹
Ich wollte schreien: ›Nicht zu viel, verlang nicht zu viel!‹ und schloss wieder die Augen. Es war still in der Kapelle. Selbst der Direktor schien stehengeblieben zu sein. Aber unter meinen Lidern sah ich nicht den rötlichen Schimmer, den das Tageslicht gibt, wenn es durch die blutgefüllte Haut dringt, sondern einen blendend weissen Schein, der schmerzte.
›Jetzt ist's genug‹, sagte die Stimme des Direktors. Ichschrak auf. Der Fremde hob die Achseln, stellte den Kelch, den er in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch und ging mit lautlosen Schritten zur Tür hinaus. Ein Wärter führte die Zurückgebliebenen ab.
Der Direktor sprach mit dem alten Pfarrer. ›Der Sohn eines englischen Kollegen‹, hörte ich, ›sehr religiös. Aber...‹ Dabei klopfte er mit einem Fingerknöchel auf seine Stirn, ›ein wenig überspannt‹.
Ich habe den Rest meiner Strafe abverdient. Es war nicht schwer. Aber ich suche immer noch eine Erklärung. War der Fremde wirklich verrückt, oder hat er gesehen, was in mir ist? Etwas Unvergängliches? Ich habe eine Stelle bei einem Gärtner angenommen. Früher war ich, was man ›eine gescheiterte Existenz‹ nennt. Aber was soll ich tun? Ich kann doch nicht nach England fahren und den Fremden fragen, ob er nur seinen Spass mit mir getrieben hat. Vielleicht ist er auch schon längst irgendwo interniert. Aber wer kann beweisen, dass nicht ein anderer aus diesem modern gekleideten Jüngling gesprochen hat? Dass ein anderer in mir war, dem diese Worte galten? Ich will warten. ›Was geht's dich an?‹ hat er gesagt, ich bin doch damals durch den Tod gegangen. Meinen Sie, das sei bedeutungslos?«
Der junge Mann zog seine langen Beine an sich, suchte mit ungeschickten Fingern nach seinen Zigaretten. Er fand sie endlich in der oberen Westentasche. Während er eine anzündete, zitterten seine Hände. Sein Blick wurde wieder furchtsam, wie bei seinem Eintreten.
Und dann stieg er aus, ohne Gruss.
Die Eule
Eigentlich war ich gar nicht mit ihm verwandt, obwohl ich ihn Onkel nannte. Er war nur der Schwager meiner Stiefmutter, und das ist eigentlich kein behördlich zugelassener Verwandtschaftsgrad. Aber ich hatte ihn gern, weil er dem Helden meines damaligen Lieblingsbuches glich, dem Onkel Benjamin von Claude Tillier. Im Gehaben und in der Ausdrucksart glich er diesem Romanhelden, und beide hatten sie den gleichen Beruf: Mein Onkel Léon war Landarzt. Seine
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