Erzählungen
dem Daumen über die Schulter) » ... dort war das Rauchen verboten.« – »Wo denn?« fragte ich. Nun fühlte er sich zu einer Erklärung verpflichtet, und er gab sie in jenem singenden Tonfall, den man Kindern gegenüber braucht, wenn sie eine einfache Sache nicht verstehen und an diesem Mangel unschuldig sind. »In der Strafanstalt nämlich.« Dann schwieg er und schien auf die Wirkung seiner Worte zu warten.
Ich blickte ihn weiter ruhig an, da entspannte sich sein Gesicht, und er nickte mir fast freundlich zu. Das Zittern liess nach, er streckte seine langen Beine neben den meinen aus und fragte: »Fahren Sie weit?« Ich nickte, nannte ihm mein Ziel, und dies schien ihn zu freuen. »Dann fahren wir ja ein grosses Stück zusammen!« Er überlegte. »Wissen Sie«, sagte er stockend, »mir ist nämlich dort ein Erlebniszugestossen« (er gebrauchte diese sonderbare Wendung), »ich bin jemandem begegnet, und diese Begegnung möchte ich gerne erzählen.« Er fuhr wieder zusammen, weil der Zugführer seine Fahrkarte sehen wollte, beruhigte sich aber, sobald die Uniform verschwunden war. »Wenn es Sie erleichtern kann«, sagte ich höflich und ärgerte mich über den konventionellen Ton, den ich gebraucht hatte. Aber er hatte den Blick wieder zu Boden gesenkt. Zerstreut suchte er den Stummel aus der Westentasche, zündete ihn an und tat ein paar tiefe Lungenzüge. Dann begann er zu sprechen, leise zuerst, lauter dann, begeistert schier, um am Ende wieder so leise zu werden wie zu Anbeginn.
»Ein Jahr hab' ich dort gemacht. Nicht gerichtlich, administrativ nennt man das. Für liederlichen Lebenswandel. Heut' hat der Direktor noch mit mir gesprochen, sehr freundlich, dann hab' ich fünfundzwanzig Franken bekommen und einen Anzug. Dieser Direktor ist schon alt, und wir hatten ihn gern, weil er uns freundlich gesinnt war. Er kannte uns alle beim Namen. Und mit den Wärtern war er strenger als mit uns. Die Stirn und der Schädel bildeten bei ihm eine glattpolierte Fläche; der untere Teil des Gesichtes war mit Bartstoppeln bedeckt, aus dem nur die Nase hervorragte, weiss und ein wenig knollig an der Spitze. Wir arbeiteten das ganze Jahr auf den Feldern, das war manchmal schwer, besonders im Winter, aber man gewöhnt sich an alles.
Am Sonntag spielte ich in der Kirche die Harmoniumbegleitung zu den Chorälen, und damit fing das Ganze eigentlich an. Vier Pfarrer waren es, die abwechselnd predigten. Ein wenig muss ich sie Ihnen wohl schildern. Der eine war ein noch junger Pfarrer aus dem Waadtland. Er trug einen Spitzbart, hatte ein rötliches Gesicht und gesunde Zähne. Begeistert predigte er, betete auch rührend, und die kleine Kapelle war stets überfüllt, wenn er sich ansagte. Es kamen auch solche, die kein Französisch verstanden. Aber das Abendmahl hat er nie gegeben, und meine Geschichte hängt mit dem Abendmahl zusammen. Der zweite, der auch französisch predigte, kam aus der benachbarten Stadt.Er trug viel graue Haare um die Lippen, und ein Gehrock beschattete seine Knie. Er sprach durchaus korrekt, bestieg nie die Kanzel, sondern lehnte sich an das Harmonium. Wenn er kam, war das Wetter immer schlecht, und im Winter schien die Zentralheizung bei seinen Ansprachen auszugehen. Das war vielleicht nur ein Eindruck. Auch den Kapuzinerpater muss ich noch erwähnen, der alle vier Wochen eine stille Messe zelebrierte. Ich spielte dann immer alte französische Liebeslieder: ›Plaisir d'amour ne dure qu'un instant‹ – oder ›Eho, ého, ého, les moutons sont aux plaines‹. Dieser Pater war sehr freundlich, und ich war ihm dankbar, weil er mein Spiel lobte.
Und endlich war da noch der deutsche Pfarrer, bei dem mir eben dieses Erlebnis zustiess. Er kam aus dem nahen Dorf und roch unter dem weissen Schnurrbart nach Wein, wenn er mir die Nummern der Choräle gab, die ich zu spielen hatte. Ich hatte einen Lieblingschoral, den ich ihm stets aufdrängte. Das Lied war lebhaft (die Melodie von Haydn) und handelte von einem Weizenkorn, das sterben muss, bevor es wieder zum Lichte kann. Bei dieser Melodie schien sich die Starrheit der Gesichter zu lösen, ich sah es deutlich, wenn ich von den Noten aufblickte. Aber ich tat dies nicht gerne, denn ich sah dann auch die Inschrift an der Wand gegenüber: ›Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.‹ Was hätte der Galiläer wohl dazu gesagt, wenn er seine Worte auf einer Gefängniswand gesehen hätte?
Während der Predigt dieses alten
Weitere Kostenlose Bücher