Erzählungen
rufe man sie auch immer zu diesen Fällen; denn die Wirkung ihrer Gegenwart sei bekannt. Ganz ohne Beruhigungsmittel käme sie aus, sie brauche sich nur neben den Kranken zu setzen, der ungebärdig sei; er werde sogleich still, wenn sie seine Hand nehme, und dann bleibe sie bei ihm, bis er erlöst sei. Erlöst, sagte sie.
Wieso erlöst? fragte ich, sie sei doch sicher gläubige Katholikin wie all ihre Landsleute. Sie wurde verlegen. Ja, antwortete sie, gläubig sei sie wohl, aber sie wisse, dass die Kranken, die neben ihr stürben, Ruhe gefunden hätten.
Dass sie weder in die Hölle noch ins Fegefeuer kämen, sondern auf dem geradesten Wege ins Paradies? Ich musste lächeln, während ich diese Frage stellte. Aber sie blieb ernst. Weder ins Paradies noch in die Hölle, entgegnete sie, nicht einmal ins Fegefeuer. Sie würden sich auflösen, wie Rauch in klarer Luft (diesen Vergleich gebrauchte sie), und weder Schmerz noch Freude mehr empfinden ... Während sie dies sagte, blickte sie abwesend aufs Tischtuch und zeichnete mit der Gabel einen kleinen Kreis.
In der Verkürzung sah ihr Gesicht merkwürdig aus. Sehr viel flaches Weiss, nur die Wölbung der Augen warf einen scharfen Schlagschatten auf ihre Wangen. Es sah aus, als seien an diesen Stellen zwei dunkle Löcher.
Ich schwieg und betrachtete sie. Ihre Kleidung war streng; eine schwarze Bluse, die den Hals in einen schwarzen Seidenkragen einschloss. Auch um die Handgelenke legten sich breite Seidenbänder. Die Finger waren kurz und stumpf. Ich bat sie, mir ihre Handfläche zu zeigen. Das, was die Handdeuter die Lebenslinie nennen, war tief eingegraben, reichte kaum bis zur Mitte des Daumenballens und wurde in kurzen Abständen von vielen Fältchen senkrecht durchschnitten.
Auch dir soll ich aus der Hand weissagen? Das kann ich nicht, dazu muss ich ein wenig betrunken sein, und auch dann stimmt es gewöhnlich nicht. Und sind wir nicht vernünftig geworden, wohl allzusehr? Hände oder Sterne, wir glauben nicht mehr an sie, darum glauben auch die Linien, die stets sich kreuzenden, nicht mehr an uns.
Wir sprachen nicht mehr viel. Sie half abwaschen, dann wollte sie noch mein Zimmer in Ordnung bringen, holte sich sogar einen Besen von meinen Nachbarsleuten. Ich lag derweilen faul auf dem Bett und rauchte. Sie rauchte nicht. Ich begleitete sie wieder heim. Ein feuchter Schnee fiel,die Strassen waren schlüpfrig, sie nahm meinen Arm. Ihr Mantel war aus weichem Stoff und fühlte sich an wie die Haut eines Tieres. Sie war nur wenig kleiner als ich. Dann fiel ein Gitter zu, sie stand einen Augenblick als schwarzer Schatten in einer erleuchteten Tür und winkte kaum merklich.
Es wird wohl ein Zufall gewesen sein, dass ich auf dem Rückwege von Betrunkenen angerempelt wurde. Drei waren es, klein zwar, aber breit in den Schultern, mit muskulösen Armen, die lang waren, wie die der Affen. Ich verteidigte mich, den Rücken gegen eine Häuserwand gelehnt. Ganz in der Nähe brannte eine Laterne. Eine Messerklinge spiegelte deren Schein und zuckte wie eines jener bengalischen Zündhölzchen in Kinderhand. Das Messer traf mich nicht. Ich erhielt nur einen starken Schlag auf die Schläfe und fiel hin.
Als ich aufwachte, lag eine dünne Schicht nassen Schnees auf mir. Meine Zunge war aufgequollen und schmeckte schlecht. Ohne Sterne war der Himmel; ich hinkte heim, und mir war sehr übel.
Am nächsten Tage war ich krank. Wohl ein wenig erkältet, mit Fieber und einem dumpfen Kopf. Zum erstenmal empfand ich die Trostlosigkeit meines Zimmers; es war auch noch nie vorgekommen, dass ich in ihm einen Tag zubrachte. Sonntags war ich sonst immer vor seiner Düsternis geflohen, in irgendein Café, und dort geblieben bis zur Dunkelheit, manchmal auch bis tief in die Nacht hinein. In einem Café macht eben die Einsamkeit viel mehr Spass. Gegen Mittag stand ich auf und kochte mir Tee. Es war still im Haus. Meine Nachbarsleute hatten keine Kinder, der Mann rückte am Morgen aus in die Grube, die Frau schlief lange, und dann beschäftigte sie sich so geräuschlos, dass ich manchmal meinte, der Raum neben meinem Zimmer sei unbewohnt.
Dann schlief ich wieder ein. Mein Zimmer war dunkel und kalt, als ich wieder erwachte. Mir tat der Rücken weh, auch fror ich.
Auch jetzt noch bekomme ich die Gänsehaut. Sieh, mein Arm ist ganz rauh... aber das vergeht wieder... Ja, du hast recht, auch der Körper erinnert sich. Warum sollte nicht auch er manchmal in der Vergangenheit leben, wenn es der Seele
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