Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
Vom Netzwerk:
so gut gelingt.
    Ich zog mich an, die Decke auf meinem Bett war dünn, dann legte ich mich wieder hin. Ich war viel zu müde, um die Lampe anzuzünden. Irgendeine trübe Laterne, draussen, in dem Hof, auf den mein Fenster ging, spritzte schmutziggelbe Flecken gegen die Zimmerdecke. Auch meine Uhr war stehengeblieben.
    Und in dieser Dunkelheit, in der das Fieber summte und gärte, sah ich die sonderbare Frau wirklich zum erstenmal. Ihr Bild war deutlich, greifbar und sehr nahe, sie lächelte mit geschlossenem Munde, so als habe sie etwas zu verbergen. Dann fiel mir ein, dass ich nicht einmal wusste, wie sie hiess. Auch ihren Vornamen kannte ich nicht, und darum sehnte ich mich nach ihr. Ich wollte fragen, vieles wollte ich sie fragen. Und dann wusste ich plötzlich, dass sie draussen vor der Türe stand.
    Es war ihr Klopfen, das nun kam, und ich rief: »Herein.« Sie hatte Blumen mitgebracht, nach dem Geruch mussten es Chrysanthemen sein. Leise sagte die Frau: »Guten Abend«, trat an den Tisch, zündete die Lampe an; sie fand sie ohne weiteres im Dunkel. Und dann legte sie die Blumen auf den Tisch.
    »Wie heisst du eigentlich?« fragte ich.
    »Juliette.« Und nach einer Weile: »Bist du krank?«
    Ich nickte. »Du hast sicher Hunger«, meinte sie. »Soll ich dir etwas kochen?« Sogar eine Schürze hatte sie mitgebracht, eine weisse Schürze, die nach Chlor roch. Sie kniete nieder vor dem Herd, räumte die Asche aus, schnitzte Späne. »Du wirst dich ganz schmutzig machen«, sagte ich. »Soll ich dir helfen?« Sie schüttelte den Kopf. Sie schüttelte den Kopf mit grosser Energie. Ihr Haar ging auf, es lag als Knoten auf ihrem Nacken. Nun fiel der Zopf, ein dicker Zopf, über die schwarze Bluse und stach doch schimmerndbraun ab von dem dunklen Grunde. Ich habe später oft mit diesem Haar gespielt, es gekämmt, geflochten. Weisst du, meine Mutter hatte ebensolche Haare, und als sie starb, habe ich immer weinen müssen, wenn ich an das Haar der Mutter dachte...
    Juliette blieb die Nacht bei mir, und seltsam war diese Nacht. Die Frau sass am Fussende des Bettes, die Knie gegen das Kinn gedrückt, und starrte in das Licht der Lampe. Gegen Morgen erlosch die Lampe. Juliette aber blieb sitzen. Manchmal erzählte sie zwischendurch einiges, in ihrer langsamen, schweren Art...
    Zweimal sei sie verlobt gewesen, erzählte Juliette, und beide Male, kurz vor der Hochzeit, seien die Männer gestorben. Der eine sei eine Treppe hinuntergestürzt und habe das Genick gebrochen, der andere sei beim Abspringen von der Strassenbahn unter ein Auto gekommen. Nun glaube sie, sie bringe Unglück – wenn der Tod ein Unglück sei. Bei mir habe sie weniger Angst. Mir werde wohl nichts geschehen. Ihr komme es vor, als stünde ich mit dem Tode auf vertrautem Fuss. Ich musste ihr recht geben. Ich dachte oft und gern an den Tod. Unangenehm war mir nur der Gedanke, dort oben in der verwässerten, schmutzigen Erde zu liegen. Aber das war doch nur ein Vorurteil.
    »Auf Wiedersehen«, sagte sie, als sie mich am Morgen verliess. Ich fragte sie nicht, wann sie wiederkommen wolle. Es war zuviel Unwahrscheinliches in ihrem Kommen. Da nützten präzise Fragen nichts.
    Dann ging ich ins Büro und arbeitete halb im Schlaf. Es waren ja immer die gleichen Briefe, die ich zu übersetzen hatte. Aber die Frage, die ich am vorigen Abend nicht gestellt hatte, quälte mich den Tag hindurch: Ob sie wohl wiederkommen würde, heute schon?
    Sie kam. Wieder zündete sie die Lampe an. Dann setzte sie sich zu mir und legte den Kopf an meine Schulter. Auch ihr Haar roch ein wenig nach Chlor. Ich wusste nicht, an was mich dieser Geruch erinnerte; es hing mit Gräbern zusammen.
    Dann schlief sie ein. Ich legte sie zurecht und blieb neben ihr sitzen. Auf ihrem verschlossenen Gesicht lag viel Müdesein.
    Die nächste Zeit war seltsam. Ich weiss eigentlich heut' noch nicht, war ich in sie verliebt oder nicht. Liebe, musst du wissen, hat verschiedene Masken. Ich nannte sie »sœurette«, es klingt zärtlicher als das deutsche »Schwesterlein«. Sie kam allabendlich zu mir, blieb manchmal die ganze Nacht, hin und wieder ging sie schon um zehn Uhr fort. Dann lag ich noch wach und dachte an sie. Es waren verworrene Gedanken. Als ob ich sie seit Ewigkeiten kennte, so war es; in mein Kinderzimmer war sie getreten, als ich noch klein war, und hatte mit mir gespielt. Und früher noch, vor diesem Kinderzimmer, war sie dagewesen, in jenem dunklen Reich, das voll Trostlosigkeit ist und

Weitere Kostenlose Bücher