Erzählungen
oder Hommard á l'américaine, und wenn ich mein ganzes Leben lang versucht habe, verrückte Sachen auszuführen, so war es ganz sicher nicht um der Sensation oder des Heldentums willen, sondern einfach, weil ich keine andere Möglichkeit fand, mein Leben zu fristen. Ich fristete buchstäblich mein Leben, indem ich es aufs Spiel setzte. Und ich versichere Ihnen, dass fünfundneunzig Prozent – übrigens sehen Sie an meiner Vorliebe für Prozentrechnungen, dass ich eigentlich ein missratener Kaufmann bin –, dass fünfundneunzig Prozent aller sogenannten Helden, als da sind: Rennfahrer, Flugkünstler, Forschungsreisende, Rekordschinder – Menschen sind, die Angst vor der Arbeitslosigkeit haben – die restlichen fünf Prozent, die wirklichen Helden, die um desRuhmes willen sich anstrengen – sind Idioten. Ich gebe zu, auch bei uns, den Arbeitsuchenden, sind Spuren dieser Renommiersucht vorhanden, dieser Romantik ... Bei einem ist diese Sucht begründet in etwelchen Minderwertigkeitskomplexen, er will seinem Vater, der ihn verachtet hat, einmal zeigen, was er für ein Kerl ist, beim andern ist es etwas anderes ... Bei mir war der alte Homer schuld, der alte Homer und jener Lehrer, dessen Bart lang und grau war und der mich mit »Gunumai se anassa« vergiftet hat ...
Man träumt sich in eine Situation, man wünscht sich diese Situation herbei, mit allen Fasern, möchte ich sagen, wenn der Ausdruck nicht so verbraucht wäre. Aber er ist wirklich gut, insofern man ihn wörtlich nimmt: mit allen Fasern. Sie hören, ich schweife ab, nur um dem Zwang zu entfliehen, Ihnen meine traurige und groteske Geschichte zu erzählen. Traurig und grotesk ist sie nämlich, wie alles im Leben, und nur Dichter verstehen es, das Traurige und Groteske so zu komponieren, dass es schön wirkt und versöhnlich. Ich bin kein Dichter ...
Ich wurde also als Held gefeiert auf jenem Schiff. Es war ein grosses deutsches Schiff, es gab viele Passagiere darauf, und ein reicher Herr zahlte meine Überfahrt. Ich erhielt eine Luxuskabine ... Aber nicht das wollte ich Ihnen erzählen. Als ich aufgefischt wurde (ein Matrose war ins Wasser gesprungen, um einen Strick um mich zu schlingen, ich war so schwach, dass ich mich nicht hätte halten können – denken Sie, zwei Tage in einem Rettungsring, und das viele Salzwasser, das ich geschluckt hatte ...), als ich endlich an Bord gezogen wurde, sah ich wohl nicht viel anders aus als der göttliche Dulder Odysseus. Ich war fast nackt, meine Unterhosen waren zerfetzt, mein Hemd hatte keine Ärmel mehr, ich hatte das Bewusstsein verloren ... Als ich die Augen aufschlug, lag ich auf den harten Planken des Decks, und ein Matrose schien meine Arme für Brunnenschwengel zu halten. Er pumpte ununterbrochen. Es war heller Tag, eine ganz freundliche Sonne schien mir indie Augen, ich schloss sie halb, weil das Licht mich blendete. Da hörte ich Schritte, die näherkamen. Ganz deutlich das Klappern hoher Stöckelschuhe. Und als ich die Augen aufmachte, den Kopf zur Seite wandte, der Richtung zu, aus der die Schritte kamen – sah ich Nausikaa ... Sie trug ein kurzes weisses Kleid, einen Chiton, ihr Haar war blond und bedeckte gerade den Nacken, ihre Beine waren sehr gerade, sie trug keine Strümpfe, nur weisse Stöckelschuhe ... Diese Schuhe störten mich – Nausikaa hat sicher Sandalen getragen. Aber dies war auch das einzig Störende ... »Gunumai se anassa« flüsterte ich, und ich war wieder ein Gymnasiast und ein Romantiker. Denn Romantik ist eine Pubertätserscheinung, und es gibt Menschen, die ihr Leben lang nicht aus der Pubertät herauskommen ... Ich hatte gedacht, ich sei von dieser Kinderkrankheit endgültig kuriert, nach dem Erlebnis auf Graziosa ... Aber wer von uns wird jemals vollständig immun sein gegen gewisse Krankheiten?
Sie hiess Dora, und schon der Name hätte mich stutzig machen sollen. Sie pflegte mich, wie sicher Nausikaa den göttlichen Dulder gepflegt hatte. Und sie hielt mich für einen Heros, für einen Übermenschen, für einen Mann, auf alle Fälle, der Übermenschliches geleistet hatte. Und ich hatte den Flug doch nur gewagt (um ganz ehrlich zu sein), weil er mir alles in allem wohl eine halbe Million Dollar eingebracht hätte, und damit hätte ich meine Schulden zahlen können ... Aber versuchen Sie einmal zu widerstehen, wenn eine Frau Sie anbeten will ... Sie lassen es sich gefallen, sie zitieren Homer, plötzlich sind Sie in eine ganz literarische Situation verstrickt, und wenn
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