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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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bekomme ich keine Prozente ... Ein Freund von mir führt dieses Rahmengeschäft ...
    Nun will ich beginnen. Sie haben auch das Gymnasium besucht? Ja? ... Desto besser. Ich bin in Genf in die Schule gegangen ... Wir hatten einen Lehrer, sein Bart war lang und grau, er gab uns pedantische Noten und trug sie mit kleinen Ziffern in ein Büchlein ein, manche mit roter Tinte, manche mit schwarzer ... »Gunumai se anassa« ... »Ich knie vor dir, o Jungfrau ...« Anassa! Ist das Wort nicht schön? Die drei »A«, sie klingen so weiss ... Können Sie sich die Szene vorstellen? Odysseus, mit Schlamm bedeckt, nackt, sicher war sein Gesicht voll Schrammen und sein Bart verklebt und verwildert ... Im Schilf hat er sich versteckt, als er den Gesang der Mädchen hörte, die zum kleinen Bach herniederstiegen, um Wäsche zu waschen. Und die Jüngste, sehr schlank war sie, und sicher trug sie einen weissen Chiton, an ein kleines, schmales Segelboot musste sie erinnern, Nausikaa, Anassa – die Jungfrau. Er hatte sie erkannt, sogleich, der göttliche Dulder Odysseus ... Ja, wissen Sie, damals waren die Dulder noch göttlich. Es gab nicht viele, die das weinrote Meer befuhren und Schiffbruch erlitten, und darum ...
    Gewiss, auch ich trage einen Bart, einen kurzen schwarzen Bart, gelockt, und ich finde, er steht mir gut ... Sie müssen mir meine Eitelkeit zugute halten ... Ich besitze nur wenig, und auf etwas muss der Mensch doch stolz sein dürfen, ich bin stolz auf meinen kurzen, gelockten Bart. Gefällt er dir auch, Berthe, mein Kind? Trinken Sie, mein Herr, Sie sind heute zu Gast bei Odysseus, und Sie werden es erzählen dürfen in Ihrer Heimat, dass Sie ihn getroffen haben in einer Bar, angetan mit Smoking und Pumps, ihn, der einmal besungen worden ist in der Menschheit Jugend voneinem blinden Sänger – aber der jetzt nicht einmal einen Reporter finden wird, der ihm einige Zeilen widmet in einer Tageszeitung ...
    Verlassen wir den pompösen Stil, er wird Sie ermüden ... Ich habe nicht vor Troja gekämpft, ich bin nur vor Verdun verwundet worden. Sehr jung war ich damals. Kaum achtzehn Jahre. Aber ich war begeistert und habe mich anwerben lassen ... Und dann habe ich mich nicht mehr zurechtgefunden. So liess ich mir von einem Freunde ein kleines Segelboot kaufen und beschloss, damit den Atlantik zu überqueren ... Jawohl, ich war der erste, der diesen Gedanken hatte, Alain Gerbaut ist nur ein kleiner Nachahmer ... Und an diesem, ich gestehe es, etwas verrückten Plan war jener Lehrer schuld, der mit uns den Homer gelesen hat, sein Bart war lang und grau – sicher hat er nie Sehnsucht gehabt nach dem weinfarbenen Meer ... Der Atlantik ist nicht weinfarben, nicht einmal, wenn ihn die untergehende Sonne bescheint ... Ich gebe zu, es war eine Verrücktheit, mich in einem einsamen Boot aufs Wasser hinauszuwagen, ich, der ich das Segeln auf dem Genfersee erlernt hatte. Gewiss, ein wenig hatte ich geübt, Proviant hatte ich mitgenommen für zwei Monate ... Aber dann kam ein Sturm, er war schön, gewiss, er war sehr schön – aber ich wurde schwach, bekam Fieber ... Ich will Ihnen nicht all meine Leiden aufzählen, ich war nach Süden abgetrieben worden, und halb bewusstlos wurde ich an eine Insel gespült. Graziosa hiess sie, wie ich später erfuhr, und sie gehört zu den Azoren. Dort traf ich Nausikaa zum ersten Male, aber ich war noch kein Odysseus ... Ich war jung, sehr jung, obwohl ich älter aussah – der Bart war mir gewachsen auf meiner verrückten Reise. Ich wurde an Land gespült, mein kleines Segelboot ging in Brüche, ich lag im Sand und streckte sicher die Zunge heraus wie ein durstiger Hund. Durst hatte ich, das kann ich Ihnen restlos bestätigen, jawohl mein Herr, und der Durst war so stark, dass ich an nichts anderes denken konnte, als an Wasser und wieder Wasser ...
    Finden Sie diesen Vouvray nicht ausgezeichnet? Auf Ihr Wohl, mein Herr, auf dein Wohl Berthe, mein Kind ... Und vergessen Sie nicht, mein Herr, dass ich zehn Prozent von jeder Flasche erhalte ... Wir wollen noch eine bestellen. Es dauert noch zwei Stunden, bis die Putzfrau kommt, dann gehe ich am liebsten heim, jetzt steht der Nebel schon dick in den Strassen, ich werde das erste Métro nehmen und heimfahren und schlafen. Heimfahren zu Nausikaa, denn, um die Pointe vorwegzunehmen, später habe ich die zweite Nausikaa getroffen und sie geheiratet – eben, weil ich keine Penelope daheim hatte und keinen göttlichen Schweinehirten ...
    Graziosa hiess die

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