Erzählungen
zerstreuen.
Die Wirkung hatte auch die ganze Beredsamkeit des alten Karlchen, denn obgleich er sich in allem Ernste für den Verdächtigten ins Zeug gelegt hatte, geschah es dennoch, daß jede Silbe, die er äußerte, den Argwohn, der sich gegen Herrn Pfennigfeder nun einmal erhoben, nur noch bestärkte und die Wut der Menge gegen ihn aufstachelte.
Der Redner hatte den merklichen Fehler gemacht, den Verdächtigten den ›Erben des würdigen Herrn Schüttelwert‹ zu nennen.
Daran hatten die Rattelburger bis jetzt noch gar nicht gedacht. Man erinnerte sich nur gewisser Drohungen, die der Onkel, der außer seinem Neffen keine anderen lebenden Verwandten mehr hatte, vor ein oder zwei Jahren ausgesprochen: er wolle Herrn Pfennigfeder enterben, und hatte seit der Zeit die Enterbung als eine abgemachte Sache angesehen, doch die Bemerkung des alten Karlchen richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf diesen Punkt und stellte ihnen die Möglichkeit vor Augen, daß diese Drohungen eben nichts als Drohungen gewesen sein könnten. Und daraufhin stellte man sich sofort die natürliche Frage: Cui bono? – eine Frage, die den jungen Mann fast noch schwerer belastete als die gefundene Weste.
Und hier muß man mir, wenn man mich nicht mißverstehen will, gestatten, eine kleine Abschweifung zu machen und zu bemerken, daß die kurze lateinische Phrase, die ich eben anwandte, immer falsch übersetzt und mißverstanden worden ist. In allen bekannten Romanen sind die beiden lateinischen Worte ›cui bono?‹ mit ›zu welchem Zweck‹ oder ›zu welchem Ende‹ übersetzt worden. Ihre wirkliche Bedeutung ist jedoch ›zu wessen Nutzen‹. Cui, wem; bono, zum Nutzen. Es ist eine rein juristische Phrase und genau anwendbar bei Fällen wie der vorliegende, bei denen es sich darum handelt, die Wahrscheinlichkeit der Täterschaft aus der Wahrscheinlichkeit des dem mutmaßlichen Täter aus der Tat erwachsenden Vorteils herzuleiten. In unserem Falle deutet die Frage ›Cui bono?‹ ganz entschieden auf Herrn Pfennigfeder. Sein Onkel hatte ihm, nachdem er zuerst ein Testament zu seinen Gunsten gemacht, mit Enterbung gedroht. Die Drohung war jedoch nicht ausgeführt worden und das ursprüngliche Testament anscheinend unverändert geblieben. Wäre dies nicht der Fall gewesen, so hätte man dem Verdächtigten kein anderes Motiv als Rache unterschieben können, doch sprach die Möglichkeit, bei dem Onkel noch einmal wieder zu Gnaden zu kommen, entschieden gegen eine solche Annahme. Da jedoch das Testament nicht umgestoßen war, die Drohung einer Enterbung aber noch immer über dem Haupte des Neffen schwebte, so wird uns plötzlich das stärkste Motiv zu einer solchen Greueltat klar: wenigstens schlossen die würdigen, scharfsinnigen Einwohner von Rattelburg in dieser Weise.
Herr Pfennigfeder wurde also auf der Stelle festgenommen und von der Menge, die sonst so gut wie keine Nachforschungen mehr anstellte, in die Stadt zurückgeführt. Unterwegs geschah noch etwas, das den Argwohn gegen ihn steigern mußte. Man bemerkte, daß Herr Biedermann, der in seinem Eifer immer ein Stückchen Weges vor der Menge herlief, plötzlich einen kleinen Gegenstand von dem Grase aufhob und, nachdem er ihn schnell untersucht, einen halben Versuch machte, ihn in seiner Tasche verschwinden zu lassen. Doch, wie gesagt, die Handlung wurde bemerkt und infolgedessen verhindert, und der aufgehobene Gegenstand stellte sich als ein spanisches Messer heraus, das ein Dutzend Personen sofort als Eigentum des Herrn Pfennigfeder erkannten. Überdies waren die Anfangsbuchstaben seines Namens in den Griff graviert. Das Messer war geöffnet, und seine Klinge wies Blutspuren auf.
Nun stand die Schuld des Neffen wohl außer allem Zweifel, und sofort nach der Ankunft in Rattelburg wurde er vor den Untersuchungsrichter geführt.
Hier nahmen die Dinge ebenfalls eine für ihn überaus ungünstige Wendung. Als man den Angeklagten fragte, wo er sich an dem Morgen, an dem Herr Schüttelwert verschwunden sei, aufgehalten habe, hatte er wahrhaftig die Frechheit, zu gestehen, daß er an demselben Morgen mit seiner Büchse draußen gejagt habe und zwar in unmittelbarer Nähe des Sumpfes, in dem man seine blutbesudelte Weste dank dem Scharfsinne des Herrn Biedermann aufgefunden hatte.
Nun trat das alte Karlchen vor und bat mit Tränen in den Augen darum, vernommen zu werden. Er sagte, daß sein strenges Pflichtgefühl Gott und den Menschen gegenüber ihm nicht gestattete, noch länger zu
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