Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Herstellung eines Vitaminprodukts – des Nadelextrakts. Die bitterste Ironie lag schon im Namen des Kombinats. Nach Ansicht der Leitung und jahrhundertelanger Erfahrung der Nordlandreisen waren Krummholznadeln das einzige lokal vorhandene Mittel gegen die Krankheit der Polarfahrer und der Gefängnisse, den Skorbut.
Mit diesem Extrakt als dem einzigen Rettungsmittel rüstete sich offiziell die gesamte Nördliche Lagermedizin – wenn schon das Krummholz nicht hilft, dann wird niemand helfen.
Dieses widerwärtige Gemisch gab man uns drei Mal am Tag, sonst gab es kein Essen in der Kantine. Wie angestrengt auch der Häftlingsmagen auf jede dünne Mehlsuppe wartet, um jedes Essen zu preisen – diesen wichtigen Moment, der täglich drei Mal kam, verdarb die Verwaltung hoffnungslos, indem sie uns zwang, vorweg einen Schluck von diesem Nadelextrakt zu nehmen. Von dem etxrem bitteren Gemisch bekommt man einen Schluckauf, der Magen krampft ein paar Minuten, und der Appetit ist hoffnungslos verdorben. In diesem Krummholz lag auch ein Moment von Strafe, von Vergeltung.
Bajonette sicherten den schmalen Durchgang in die Kantine, den Tisch, an dem mit einem Eimer und einer winzigen, aus einer Konservendose gefertigten Blechkelle der »Knochenklempner« des Lagers saß, der lekpom , und jedem die heilsame Giftdosis in den Mund goss.
Die Besonderheit dieser jahrelangen Folter mit dem Krummholz, der Bestrafung mit der Kelle, die in der ganzen Union durchgeführt wurde, bestand darin, dass in diesem Extrakt, dem in sieben Kesseln gekochten, keinerlei Vitamin C enthalten war, das vor Skorbut bewahren konnte. Vitamin C ist sehr flüchtig, es verschwindet nach fünfzehn Minuten Kochen.
Aber es wurde eine medizinische Statistik geführt, eine durchaus glaubwürdige, mit der man überzeugend, »mit den Zahlen in der Hand« nachwies, dass das Bergwerk mehr Gold bringt, die Liegetage abnehmen. Dass die Menschen, vielmehr die
dochodjagi
, die an Skorbut starben, nur darum starben, weil sie das rettende Gemisch ausgespuckt hatten. Es wurde sogar Protokoll geführt über die Ausspucker, sie wurden in den Karzer, in die Rotte mit verschärftem Regime gesetzt. Solche Aufstellungen gab es nicht wenige.
Der gesamte Kampf gegen den Skorbut war eine blutige, tragische Farce, durchaus passend zum phantastischen Realismus unseres damaligen Lebens.
Erst nach dem Krieg, als man diesen blutigen Gegenstand auf allerhöchster Ebene analysiert hatte – wurde das Krummholz komplett und überall verboten.
Nach dem Krieg wurden in großen Mengen Hagebutten in den Norden gebracht, die reales Vitamin C enthalten.
Heckenrosen gibt es an der Kolyma in großen Mengen – Bergheckenrosen, niedrigwachsend, mit lila Fruchtfleisch. Uns aber, zu unserer Zeit war es verboten, während der Arbeitszeit an den Heckenrosenstrauch zu gehen, man schoss sogar und tötete jeden, der diese Beere, diese Frucht essen wollte, ohne überhaupt von ihrem heilsamen Gehalt zu wissen. Der Begleitposten verteidigte die Hagebutten gegen die Häftlinge.
Die Hagebutten faulten, vertrockneten, verschwanden unter dem Schnee, um im Frühling wieder aufzutauchen, unter dem Eis herauszuschauen als süßestes, zartestes Lockmittel, das die Zunge nur mit dem Geschmack, mit einem geheimen Glauben verführt, nicht mit einem Wissen, einer Wissenschaft, vorgetragen in den Rundschreiben, die nur das Krummholz, die Zirbel, den Extrakt aus dem Vitaminkombinat empfahlen. Der von der Hagebutte bezauberte
dochodjaga
übertrat die Zone, den magischen Kreis, den die Wachtürme umrissen, und bekam eine Kugel in den Hinterkopf.
Um sich den Einweisungsschein wegen Dysenterie zu erkämpfen, musste man »Stuhl« vorweisen, ein Klümpchen Schleim aus dem After. Der Häftling und
dochodjaga
hat bei normaler Lagernahrung »Stuhl« einmal in fünf Tagen, nicht öfter. Wieder ein medizinisches Wunder. Jeder Krümel wird von einer beliebigen Körperzelle aufgesaugt, offenbar nicht nur vom Darm und dem Magen. Auch die Haut wollte gern, wäre bereit die Nahrung aufzusaugen. Was der Darm herausgibt, auswirft, ist schwer zu begreifen – man kann kaum erklären, was er auswirft.
Der Häftling kann seinen Enddarm nicht immer zwingen, das dokumentarische und rettende Klümpchen Schleim in die Hände des Arztes auszustoßen. Doch von Betretenheit und Scham kann natürlich nicht die Rede sein. Scham – dieser Begriff ist zu menschlich.
Aber da kommt eine Chance, dich zu retten, und der Darm funktioniert nicht,
Weitere Kostenlose Bücher