Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Unterleutnant erschoss den Flüchtigen auf der Stelle.
Was weist man vor in der Registratur bei einer Fahndung beinahe auf der ganzen Welt? Wie identifiziert man einen Menschen? Es gibt einen Pass, einen sehr genauen – das ist der daktyloskopische Abdruck aller zehn Finger. Solche Fingerabdrücke liegen in der Akte jedes Häftlings – in Moskau, in der zentralen Kartothek, und in Magadan, in der lokalen Verwaltung.
Um sich nicht die Mühe zu machen, den gefassten Häftling nach Arkagala zu bringen, schlug der junge Leutnant dem Flüchtigen mit der Axt beide Hände ab, steckte sie in seine Tasche und lief los, um das Ergreifen des Häftlings zu melden.
Der Flüchtige aber stand auf und erschien nachts in unserer Baracke, bleich, nach großem Blutverlust, sprechen konnte er nicht, er streckte nur die Arme vor. Unser Brigadier lief nach dem Begleitposten, und der Flüchtige wurde weggebracht in die Tajga.
Ob man den Flüchtigen lebend nach Arkagala überstellte oder ihn einfach in die Büsche führte und endgültig umbrachte – das wäre der einfachste Ausweg gewesen für den Flüchtigen wie den Begleitposten wie für den Unterleutnant Postnikow.
Bestraft wurde Postnikow nicht. Und es hatte auch niemand eine solche Strafe erwartet. Aber gesprochen wurde viel über Postnikow, selbst in jener hungrigen Sklavenwelt, in der ich damals lebte – der Vorfall war frisch.
Darum kam ich, ein Stück Kohle in der Hand, um den Ofen aufzufüllen und zu schüren, ins Kabinett des Chefs.
Postnikow war hellblond, aber nicht wie ein Albino, sondern eher der nördliche, blauäugige, Eismeer-Typ – etwas über mittelgroß. Ein ganz und gar gewöhnlicher Mensch.
Ich erinnere mich, ich sah ihn gierig an und suchte wenigstens nach einem winzigen Zeichen des Lavater-, des Lombroso-Typs im erschrockenen Gesicht des jungen Leutnants Postnikow …
Wir saßen am Abend am Ofen, und Galina Pawlowna sagte:
»Ich möchte mich mit Ihnen beraten.«
»Worüber denn?«
»Über mein Leben.«
»Seit ich erwachsen bin, Galina Pawlowna, lebe ich nach einem wichtigen Gebot: ›Du sollst nicht belehren deinen Nächsten.‹ Wie im Evangelium. Jedes Schicksal ist unwiederholbar. Jedes Rezept falsch.«
»Und ich dachte, dass Schriftsteller …«
»Das Unglück der russischen Literatur, Galina Pawlowna, besteht darin, dass sie sich in fremde Angelegenheiten mischt, fremde Schicksale lenkt und sich zu Fragen äußert, von denen sie nichts versteht – ohne jedes Recht, in moralische Probleme hineinzureden und zu verurteilen, ohne etwas zu wissen und wissen zu wollen.«
»Gut. Dann erzähle ich Ihnen ein Märchen, und Sie beurteilen es als literarisches Werk. Alle Verantwortung für das Konventionelle oder Realistische – was mir als ein und dasselbe erscheint – übernehme ich.«
»Hervorragend. Probieren wir es mit einem Märchen.«
Galina Pawlowna zeichnete schnell die Skizze eines höchst banalen Dreiecks, und ich riet ihr, ihren Mann nicht zu verlassen.
Aus tausend Gründen. Erstens die Gewohnheit, die Vertrautheit mit einem Menschen, wie gering sie auch sei, aber unersetzlich, während dort – das Unerwartete ist, ein Korb voller Überraschungen. Natürlich, auch ihn kann man verlassen.
Der zweite Grund – Pjotr Jakowlewitsch Podossenow war offenkundig ein guter Mensch. Ich war in seiner Heimat gewesen, hatte für ihn mit echter Sympathie eine Arbeit über die Ganoven geschrieben, Kotschura dagegen kannte ich gar nicht.
Schließlich drittens, und vor allem, ich mag keine Veränderungen. Ich komme zum Schlafen nach Hause, in das Haus, in dem ich wohne, Neues mag ich nicht einmal in der Möblierung, mit Mühe gewöhne ich mich an ein neues Möbelstück.
Stürmische Veränderungen sind in meinem Leben immer ohne meinen Willen geschehen, aus irgendjemandes offenkundig bösem Willen, denn ich habe niemals Veränderungen gesucht, nichts Besseres als das Gute gesucht.
Es gab auch einen Grund, der dem Ratenden seine Todsünde leichter machte. In Angelegenheiten des eigenen Herzens nimmt man nur solche Ratschläge an, die nicht gegen den eigenen inneren Willen gehen – alle anderen werden abgelehnt oder durch ein Vertauschen der Begriffe zunichte gemacht.
Wie jedes Orakel riskierte ich nicht viel. Ich riskierte nicht einmal meinen guten Namen.
Ich warnte Galina Pawlowna, dass mein Rat rein literarisch und keinerlei moralische Verpflichtung mit ihm verbunden sei.
Aber ehe Galina Pawlowna eine Entscheidung traf, mischten sich höhere
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