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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Wörterbuch, das ich Podossenow geschenkt habe, ist die einzige Prosaarbeit, die ich an der Kolyma geschrieben habe.
    Mein ungetrübtes Glück wurde dadurch nicht verdüstert, dass Galina Pawlowna ihren Mann verließ, die Liebesgeschichte blieb ein Kinofilm. Ich war nur Zuschauer, und dem Zuschauer vermittelte selbst die Großaufnahme eines fremden Lebens, eines fremden Dramas, einer fremden Tragödie nicht die Illusion des Lebens.
    Und nicht die Kolyma, eine Gegend der extremen Zuspitzung sämtlicher Aspekte des Familien- und des Frauenproblems, einer Zuspitzung bis zum Abnormen und zur Verschiebung jeglicher Maßstäbe, war der Grund für das Zerfallen dieser Familie.
    Galina Pawlowna war ein kluger Kopf, eine Schönheit mit leicht mongolischem Einschlag, Chemieingenieurin, Vertreterin des damals modischsten, allerneusten Berufs, die einzige Tochter eines russischen politischen Verbannten.
    Pjotr Jakowlewitsch war ein schüchterner Permjake, der seiner Frau in allem nachstand – in den Fähigkeiten wie den Interessen und den Ansprüchen. Dass die Eheleute kein Paar waren, sprang ins Auge, und obwohl es für Familienglück kein Gesetz gibt, schien es dieser Familie bestimmt, zu zerfallen – wie übrigens jeder Familie.
    Beschleunigend, als Katalysator in diesem Zerfallsprozess wirkte die Kolyma.
    Galina Pawlowna hatte eine Liebesaffäre mit dem Oberingenieur des Kohlereviers Jurij Iwanowitsch Kotschura, nicht eine Affäre, sondern vielmehr eine zweite Liebe. Und Kotschura hatte Kinder, hatte Familie. Ich wurde Kotschura auch vorgeführt, bevor ich die Weihen als Techniker bekam.
    »Das ist er, Jurij Pawlowitsch.«
    »Gut«, sagte Jurij Pawlowitsch und sah weder mich noch Galina Pawlowna an, sondern schaute direkt vor sich auf den Boden. »Reichen Sie den Rapport zur Anstellung ein.«
    Allerdings stand in diesem Drama alles noch bevor. Kotschuras Frau machte eine Eingabe bei der Politverwaltung des Dalstroj, es begannen Besuche der Kommission, Zeugenvernehmungen, Unterschriftensammlung. Die Staatsmacht nutzte ihren gesamten Apparat zur Verteidigung der ersten Familie, für die sie in Moskau den Vertrag mit Dalstroj unterzeichnet hatte.
    Auf den Rat aus Moskau, eine Trennung werde die Liebe garantiert töten und Jurij Pawlowitsch seiner Frau zurückgeben, entließen die obersten Magadaner Instanzen Galina Pawlowna und versetzten sie an einen anderen Ort.
    Selbstverständlich kam bei solchen Versetzungen nie etwas heraus und konnte nichts herauskommen. Dennoch ist die Trennung von der Geliebten der einzige staatlich gebilligte Weg zur Verbesserung der Lage. Andere Methoden als die aus »Romeo und Julia« existieren nicht. Das ist eine Tradition der Urgesellschaft, und die Zivilisation hat zu dieser Frage nichts Neues beigetragen.
    Nach der Antwort ihres Vaters war Galina Pawlownas und mein Verhältnis vertrauensvoller geworden.
    »Postnikow ist hier, Warlam Tichonowitsch, der mit den Händen.«
    Und ob ich Postnikow mit den Händen sehen wollte!
    Vor einigen Monaten, als ich noch in Kadyktschan schuftete und eine Versetzung nach Arkagala – auch nur in den Kohleschacht, nicht ins Labor – als unvorstellbares Wunder erschien, war eben in unsere Baracke, das heißt ein Segeltuchzelt, das für die sechzig Grad Frost mit einer Schicht Teerpappe oder Ruberoid, ich weiß nicht mehr, und zwanzig Zentimetern Luft gewärmt wurde – die Luftschicht entsprechend der Magadan-Moskauer Instruktion –, nachts ein Flüchtiger aufgetaucht.
    Durch Arkagala, durch die Tajga von Arkagala, ihre Flüsschen, Bergkuppen und Talkessel, führt der kürzeste Landweg vom Festland her – über Jakutien, den Aldan, die Kolyma, die Indigirka.
    Die Marschroute der Ausbrecher, ihre geheimnisvolle Karte tragen die Flüchtigen in der Brust – die Menschen laufen und erahnen die Richtung mit einer inneren Witterung. Und diese Richtung stimmt, wie die Flugroute der Gänse oder Kraniche. Tschukotka ist ja keine Insel, sondern eine Halbinsel, und Festland nennt man das Große Land aufgrund von tausend Analogien: der weite Seeweg, die Abfahrt aus Häfen, vorüber an der Insel Sachalin, dem Ort der zaristischen
katorga
.
    All das weiß auch die Leitung. Darum stehen im Sommer eben um Arkagala herum Posten, fliegende Einsatztrupps, Operativgruppen in Zivil und in Uniform.
    Vor einigen Monaten hatte der Unterleutnant Postnikow einen Flüchtigen gefasst, ihn nach Kadyktschan zu bringen über zehn, fünfzehn Kilometer hatte er keine Lust, und der

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