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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Vorübergehenden zu unterscheiden – wir arbeiteten parallel zum Weg, im Winter schlägt man an der Kolyma keine neuen Pfade, weder in Magadan noch an der Indigirka.
    Die Kette der kleinen Gruben zog sich an der Straße entlang – unser Konvoj, wie groß auch immer, war auseinandergezogen über das von der Instruktion bestimmte Maß hinaus.
    Auf uns zu, an unseren Gruben entlang, führte man eine große Brigade oder eine Gruppe von Leuten, die noch keine Brigade waren. Dazu muss man die Leute in Gruppen zu mindestens drei Mann einteilen und ihnen Begleitposten mit Gewehren geben. Diese Leute waren gerade erst aus den Fahrzeugen gestiegen. Die Fahrzeuge standen noch da.
    Ein Soldat aus der Wache, die die Leute in unseren Lagerpunkt Jagodnyj brachte, fragte unseren Begleitposten etwas.
    Und plötzlich hörte ich eine Stimme, einen gellenden Freudenschrei:
    »Schalamow! Schalamow!«
    Das war Rodionow aus der Brigade Polupan, Arbeiter und
dochodjaga
wie ich, aus dem Strafisolator von »Spokojnyj«.
    »Schalamow! Ich habe Polupan totgeschlagen. Mit der Axt in der Kantine. Man bringt mich zur Untersuchung in dieser Sache. Er ist tot!« Rodionow tanzte einen verzückten Tanz. »In der Kantine mit der Axt.«
    Von der freudigen Nachricht wurde mir tatsächlich warm ums Herz.
    Die Begleitposten zogen uns in unterschiedliche Richtungen.
    Meine Untersuchung führte zu nichts, eine neue Haftstrafe hängte man mir nicht an. Irgendwo oben wurde entschieden, dass der Staat wenig Nutzen davon haben wird, wenn man mir wieder eine neue Haftstrafe gibt.
    Man entließ mich aus dem Untersuchungsgefängnis in eine der Vitaminaußenstellen.
    Wozu die Untersuchung über den Mord an Polupan führte, weiß ich nicht. Damals wurden nicht wenige Brigadiersköpfe abgeschlagen, und in unserer Vitaminaußenstelle sägten die Ganoven dem verhassten Brigadier den Kopf mit der Waldsäge ab.
    Ljoscha Tschekanow, meinen Bekannten aus dem Butyrka-Gefängnis, habe ich nicht wieder getroffen.
    1970-1971

Triangulation 3. Ordnung
    Im Sommer 1939 von einer stürmischen Welle an die sumpfigen Ufer des Schwarzen Sees geworfen, in die Kohleschürfung, als Invalide, arbeitsunfähig nach der Goldmine des Jahres 1938 im Bergwerk »Partisan« und zu erschießen, aber nicht erschossen – grübelte ich in den Nächten nicht darüber nach, was und wie es mir zugestoßen war. Wofür – diese Frage stellte sich nicht im Verhältnis von Mensch und Staat.
    Doch ich wollte mit meinem schwachen Willen, dass mir irgendjemand das Geheimnis meines eigenen Lebens erzählt.
    Ich erlebte Frühling und Sommer neununddreißig in der Tajga und konnte noch immer nicht begreifen, wer ich war, konnte nicht begreifen, dass mein Leben weitergeht. Ich war wie gestorben im Jahr achtunddreißig in den Goldgruben von »Partisan«.
    Zuerst musste ich herausfinden, ob dieses Jahr achtunddreißig Wirklichkeit war. Oder ist dieses Jahr ein Albtraum, ganz gleich wessen – meiner, deiner, der Geschichte?
    Meine Nachbarn, die fünf Mann, die mit mir vor einigen Monaten aus Magadan gekommen waren, konnten nichts erzählen: Ihre Lippen waren für immer verschlossen, die Zungen für immer gebunden. Ich erwartete von ihnen auch nichts anderes – der Chef Wassilenko, der Arbeiter Frisorger, der Skeptiker Nagibin. Unter ihnen war sogar der Zuträger Gordejew. Alle zusammen waren sie Russland.
    Nicht von ihnen erwartete ich die Bestätigung meiner Verdachte, die Prüfung meiner Gefühle und Gedanken, nicht von ihnen. Und nicht von den Chefs natürlich.
    Der Chef der Schürfung Paramonow hatte, als er sich in Magadan »Leute« für sein Revier holte, entschlossen Invaliden ausgewählt. Der ehemalige Chef von »Maldjak« wusste genau, wie sie sterben und wie sie sich ans Leben klammern. Und wie schnell sie vergessen.
    Nach einer gewissen Zeit – vielleicht ein paar Monaten, vielleicht nur ein paar Momenten – meinte Paramonow, dass die Erholung ausreichend ist – darum betrachtete man die Invaliden nicht mehr als Invaliden. Aber Filippowskij war Lokführer, Frisorger Tischler, Nagibin Ofensetzer, Wassilenko Aufseher im Bergwerk. Nur ich, ein Literat Russlands, erwies mich als für grobe Arbeiten geeignet.
    Ich wurde schon zu diesen groben Arbeiten gebracht. Der Vorarbeiter Bystrow betrachtete angewidert meinen schmutzigen, verlausten Körper, meine eiternden Wunden an den Füßen, die Kratzspuren von den Läusen, den hungrigen Glanz in den Augen, und er sprach mit Genuss seinen Lieblingswitz: »Was

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