Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow

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Utinaja in den Händen von Doktor Beridse. Die Ärzte an der Kolyma können zwei Arten von Verbrechen begehen – das tätige Verbrechen, wenn der Arzt dich in die Strafzone, unter die Kugeln schickt, denn juristisch braucht jedes Protokoll über Arbeitsverweigerung die ärztliche Billigung. Das ist die eine Art der Verbrechen der Ärzte an der Kolyma.
    Die andere Art von ärztlichen Verbrechen ist das Verbrechen durch Untätigkeit. Im Fall mit Beridse war das Verbrechen die Untätigkeit. Er tat nichts, um mir zu helfen, sah meine Klagen gleichgültig an. Ich wurde zum
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, aber war noch nicht tot.«
    »Warum haben du und ich überlebt?«, fragte Iwan Nikolajewitsch. »Weil wir Journalisten sind.« Diese Erklärung hat eine Logik. Wir verstehen es, uns bis ans Ende ans Leben zu klammern.
    »Ich glaube, das ist vor allem für Tiere charakteristisch und nicht für Journalisten.«
    »Keineswegs. Tiere sind schwächer als der Mensch im Kampf um das Leben.«
    Ich stritt nicht. Ich wusste all das auch selbst. Dass ein Pferd im Norden stirbt und nicht eine Saison in der Goldmine aushält, dass ein Hund verreckt bei der menschlichen Brotration.
    Ein anderes Mal warf Iwan Nikolajewitsch Familienprobleme auf.
    »Ich bin ledig. Mein Vater ist im Bürgerkrieg umgekommen. Meine Mutter ist gestorben, während ich in Haft war. Ich habe niemanden, dem ich meinen Hass oder meine Liebe oder mein Wissen weitergeben kann. Aber ich habe einen Bruder, einen jüngeren Bruder. Er glaubt an mich wie an einen Gott. Und so lebe ich, um bis aufs Große Land zu gelangen, nach Ischim, in unsere Wohnung zu kommen, Woronzow-Straße zwei, meinem Bruder in die Augen zu schauen und ihm die ganze Wahrheit zu eröffnen. Verstehst du?«
    »Ja«, sagte ich, »das ist ein lohnendes Ziel.«
    Jeden Tag, und es waren sehr viele Tage, mehr als ein Monat, brachte mir Iwan Nikolajewitsch sein Essen – es unterschied sich in nichts von unserer Polarration, und ich aß, um den Topographen nicht zu kränken, gemeinsam mit ihm sein Brot und seine Butter.
    Sogar seinen Alkohol – die Freien bekamen Alkohol – brachte mir Bossych.
    »Ich trinke nicht.«
    Ich trank. Aber dieser Alkohol war von so geringer Stärke, nachdem er einige Lagerhäuser und einige Chefs passiert hatte, dass Bossych nichts riskierte. Das war beinahe Wasser.
    Im Jahr siebenunddreißig war Bossych im Sommer ein paar Tage im »Partisan« gewesen, noch zu Bersins Zeiten, und hatte die Verhaftung der berühmten Brigade Gerassimow erlebt. Das war eine geheimnisvolle Geschichte, von der kaum jemand weiß. Als man mich am 14. August 1937 ins »Partisan« überführte und in einem Segeltuchzelt unterbrachte, stand gegenüber unserem Zelt ein niedriges Holzblockhaus, fast eine Erdhütte, in der die Tür an einem einzigen Türband hing. Die Türbänder sind an der Kolyma nicht aus Eisen, sondern aus einem Stück Autoreifen. Alteingesessene haben mir erklärt, dass in dieser Baracke die Brigade Gerassimow wohnte – fünfundsiebzig Trotzkisten, von denen keiner arbeitete.
    Schon sechsunddreißig hatte die Brigade eine Reihe von Hungerstreiks durchgeführt und von Moskau die Genehmigung erreicht, nicht arbeiten zu müssen und dabei die »Produktions-« und nicht die Strafration zu erhalten. Bei der Verpflegung gab es damals vier »Kategorien« – das Lager nutzte die philosophische Terminologie an den unpassendsten Stellen: die »Stachanow«ration, bei Erfüllung der Norm zu 130% oder mehr – 1000 Gramm Brot, die »Stoßarbeiter«ration, zu 110 bis 130% – 800 Gramm Brot, die Produktionsration, 90 bis 100% – 600 Gramm Brot, und die Strafration – 300 Gramm Brot. Verweigerer wurden zu meiner Zeit auf die Strafration gesetzt, Wasser und Brot. Aber so war es nicht immer.
    Der Kampf ging in den Jahren fünfunddreißig und sechsunddreißig – und durch eine Reihe von Hungerstreiks verschafften sich die Trotzkisten des Bergwerks »Spokojnyj« gesetzlich festgelegte 600 Gramm.
    Man nahm ihnen die Lädchen , die Bestellungen, aber zwang sie nicht zur Arbeit. Das Wichtigste ist hier die Heizung, die zehn Monate Winter an der Kolyma. Man erlaubte ihnen, nach Holz auszufahren für sich selbst und für das ganze Lager. Unter solchen Konditionen also existierte die Brigade Gerassimow in den Bergwerken von »Partisan«.
    Wenn jemand zu beliebiger Tages- und Nacht- oder Jahreszeit den Wunsch äußerte, in eine »normale« Brigade zu wechseln, wurde er versetzt. Und andererseits – konnte jeder