Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Arbeitsverweigerer direkt vom Ausrücken nicht einfach in die RUR oder in eine Strafkompanie oder in den Isolator gehen, sondern in die Brigade Gerassimow. Im Frühjahr 1937 lebten in dieser Baracke fünfundsiebzig Mann. In einer Nacht dieses Frühjahrs wurden sie alle an die Serpantinnaja gefahren, in das damalige Untersuchungsgefängnis der Nördlichen Bergwerksverwaltung.
Niemanden von ihnen hat man jemals irgendwo wiedergesehen. Iwan Nikolajewitsch Bossych hatte diese Leute gesehen, aber ich sah nur die vom Wind geöffnete Tür ihrer Baracke.
Iwan Nikolajewitsch erklärte mir die Finessen des Topographengeschäfts: wir haben in der Klamm ein paar Markierpfählchen aufgestellt, und von diesem Dreifuß dort, mit dem Theodoliten darauf, haben wir sie ins »Fadenkreuz« genommen.
»Eine gute Sache ist die Topographie. Besser als die Medizin.«
Wir schlugen Schneisen, zeichneten Ziffern auf den Kerben, die von gelbem Harz trieften. Die Ziffern zeichneten wir mir einfachem Bleistift, nur der schwarze Graphit, der Bruder des Diamanten, war verlässlich – alle Farben, die chemisch gemixten dunkelblauen und grünen waren zur Vermessung der Erde ungeeignet.
Unsere Außenstelle wurde allmählich eingefasst von einer leichten, gedachten Linie von einer Schneise zu anderen, in denen das Auge des Theodoliten die Nummer auf dem jeweiligen Pfahl entdeckte.
Feines Eis, weißes Eis erfasste schon die Flüsschen, die Bächlein. Kleine flammende Blätter bedeckten unsere Wege, und Iwan Nikolajewitsch hatte es eilig:
»Ich muss zurück nach Magadan, rasch meine Arbeit an die Verwaltung übergeben, die Abrechnung bekommen und losfahren. Die Dampfer fahren noch. Ich werde gut bezahlt, aber ich muss mich beeilen. Zwei Gründe habe ich für meine Eile. Der erste – ich will aufs Große Land, drei Jahre Kolyma sind genug für das Studium des Lebens. Obwohl es heißt, dass das Große Land noch im Nebel liegt für solche Reisenden wie dich und mich. Aber ich muss mich ranhalten aus einem zweiten Grund.«
»Und was ist der zweite?«
»Der zweite ist, dass ich kein Topograph bin. Ich bin Journalist, Zeitungsmann. Die Topographie habe ich erst hier gelernt, an der Kolyma, im Bergwerk »Raswedtschik«, wo ich Lattenträger beim Topographen war. Ich habe diese Finessen erlernt, weil ich nicht auf Doktor Beridse hoffte. Mein Chef hat mir geraten, diese Arbeit zum Anschluss des Schwarzen Sees zu übernehmen. Aber ich habe etwas durcheinander gebracht, etwas übersehen. Und den ganzen Anschluss neu zu beginnen habe ich keine Zeit.«
»Ach so …«
»Die Arbeit, die wir beide machen, ist grobe topographische Arbeit. Sie nennt sich Triangulation dritter Ordnung. Aber es gibt auch höhere Grade – zweiter Ordnung, erster Ordnung. Daran wage ich gar nicht zu denken, und ich werde mich kaum im Leben damit befassen.«
Wir verabschiedeten uns, und Iwan Nikolajewitsch fuhr ab nach Magadan.
Schon im folgenden Jahr, im Sommer vierzig hatte ich, obwohl ich längst mit Hacke und Schaufel in der Schürfung arbeitete, wieder Glück – der neue Topograph aus Magadan begann den »Anschluss« noch einmal von vorn. Ich wurde als erfahrener Lattenträger abkommandiert, aber sagte natürlich kein Wort von den Zweifeln Iwan Nikolajewitschs. Trotzdem fragte ich den neuen Topographen nach dem Schicksal von Iwan Bossych.
»Er ist längst auf dem Festland, die Kanaille. Wir korrigieren hier seine Arbeit«, sagte düster der neue Topograph.
1973
Die Schubkarre I
Die Goldsaison ist kurz. Gold gibt es viel – aber wie darankommen? Das Goldfieber von Klondike, dem überseeischen Nachbarn Tschukotkas, hatte Tote zum Leben erwecken können – und in sehr kurzer Frist. Aber wenn man dieses Goldfieber zügeln würde, den Puls des Goldgräbers, des Goldsuchers weniger fiebrig machen, vielmehr verlangsamen, sogar kaum noch pochen lassen würde, dass das Leben nur noch glimmt in den sterbenden Menschen? Das Ergebnis war überzeugender als in Klondike. Ein Ergebnis, das nicht kennen wird, wer sich an die Pfanne, an die Schubkarre macht, wer schürft. Wer schürft – ist nur Bergarbeiter, nur Erdgräber, nur Steinhauer. Für das Gold in der Schubkarre interessiert er sich nicht. Und nicht einmal, weil es ihm »nicht zusteht«, sondern vor Hunger, vor Kälte, vor physischer und geistiger Auszehrung.
Eine Million Menschen an die Kolyma zu bringen und ihnen Arbeit über den Sommer zu geben ist schwer, aber möglich. Aber was sollen diese Leute im Winter tun?
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