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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Wechselkarre. Eines der schrecklichsten Gesetze der Produktion, auf das immer geschaut wird.
    Gut, wenn die eigenen Kameraden gnädig sind – vom Brigadier braucht man das nicht zu erwarten, aber vom Ältesten in der Gruppe – denn überall gibt es Älteste und ihnen Unterstellte, die Möglichkeit, Ältester zu werden, ist niemandem verschlossen, nicht einmal den Achtundfünfzigern. Wenn die Kameraden gnädig sind und dir erlauben, ein wenig durchzuatmen. Von einer Rauchpause kann gar keine Rede sein. Eine Rauchpause war 1938 ein politisches Verbrechen, Sabotage, und wurde nach Artikel achtundfünfzig, Punkt vierzehn bestraft.
    Nein. Die eigenen Kameraden schauen darauf, dass du den Staat nicht betrügst, dich nicht ausruhst, wenn sich das nicht gehört. Dass du dir die Brotration verdienst. Die Kameraden wollen sich nicht mit dir befassen, mit deinem Hass befassen, deiner Bitterkeit, deinem Hunger und deiner Kälte. Und wenn deinen Kameraden alles egal ist – solche waren sehr sehr selten im Jahr achtunddreißig an der Kolyma –, steht hinter ihnen der Brigadier, und wenn der Brigadier weggeht, um sich zu wärmen, lässt er einen offiziellen Beobachter da – einen Helfer des Brigadiers unter den Arbeitern. So trank Doktor Kriwizkij , ehemaliger Stellvertretender Volkskommissar für Verteidigungsindustrie, Tag für Tag mein Blut in der Spezialzone an der Kolyma.
    Und wenn der Brigadier es nicht sieht, dann sieht es der Vorarbeiter, der Aufseher, der Einsatzleiter, der Abschnittschef, der Bergwerkschef. Dann sieht es der Begleitposten und gewöhnt dir den Mutwillen mit dem Gewehrkolben ab. Dann sieht es der Bergwerkaufseher von der örtlichen Parteiorganisation, der Bevollmächtigte der Kreisabteilung und das Netz seiner Informanten. Dann sieht es der Vertreter der Westlichen, Nördlichen und Südwestlichen Verwaltung von Dalstroj oder von Magadan selbst, der GULag-Vertreter aus Moskau. Sie alle verfolgen jede deiner Bewegungen, die ganze Literatur und die ganze Publizistik verfolgt, ob du zum Scheißen gegangen bist zur falschen Zeit. Es ist schwer, die Hosen zuzuknöpfen, die Hände lassen sich nicht aufbiegen. Sie krümmen sich um den Griff der Hacke, um den Griff der Schubkarre. Das sind beinahe Kontrakturen. Und der Begleitposten schreit:
    »Wo ist deine Scheiße? Wo ist deine Scheiße, frage ich.«
    Und er fuchtelt mit dem Kolben. Der Begleitposten muss weder Pellagra noch Skorbut, noch Dysenterie kennen.
    Darum atmet der Schubkarrenschieber unterwegs durch.
    Jetzt wird unsere Erzählung von der Schubkarre durch ein Dokument unterbrochen: ein ausführliches Zitat aus dem Artikel »Das Problem der Schubkarre«, den die Zeitung »Die Sowjetische Kolyma« im November 1936 druckte:
    »… Für einen gewissen Zeitabschnitt müssen wir das Problem der Förderung von Erde, Torf und Sand eng mit dem Problem der Schubkarre verknüpfen. Es ist schwer zu sagen, wie lang dieser Zeitabschnitt dauern wird, in dem wir die Förderung mit Handschubkarren durchführen müssen, doch wir können mit ausreichender Genauigkeit sagen, dass von der Konstruktion der Schubkarre in gewaltigem Maße sowohl die Produktionsgeschwindigkeiten als auch die Selbstkosten der Produktion abhängen. Die Schubkarren haben ein Fassungsvermögen von nur 0,075 Kubikmeter, während ein Fassungsvermögen von mindestens 0,12 Kubikmeter notwendig wäre … Für unsere Bergwerke brauchen wir in den nächsten Jahren einige Zehntausend Schubkarren. Wenn diese Schubkarren nicht allen Forderungen entsprechen, die die Arbeiter selbst und die Produktionsgeschwindigkeit stellen, dann werden wir erstens die Produktion verzögern, zweitens die Muskelkraft der Arbeiter unproduktiv verausgaben und drittens gewaltige Geldmittel unnütz vergeuden.«
    Alles richtig. Es gibt nur eine Ungenauigkeit: Für 1937 und die folgenden Jahre brauchte man nicht einige Zehntausend, sondern einige Millionen dieser großen, ein Zehntel Kubikmeter fassenden Schubkarren, die »den Forderungen entsprechen, die die Arbeiter selbst stellen.«
    Viele, viele Jahre nach diesem Artikel, etwa dreißig Jahre später, erhielt mein guter Freund eine Wohnung, und wir feierten den Einzug. Jeder schenkte, was er konnte, und ein sehr nützliches Geschenk waren Lampenschirme samt Kabel. In den sechziger Jahren konnte man solche Lampenschirme in Moskau schon kaufen.
    Die Männer kamen einfach nicht zurecht mit dem Stromanschluss des Geschenks. Zu dieser Zeit erschien ich, und eine andere Bekannte von

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