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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Altersinvalide, und als Invalide arbeitete er als Barackendienst im Kontor. Das war ein offensichtlicher Betrug. Vor mir stand ein erwachsener, kräftiger Mann, der durchaus die allgemeinen Arbeiten verrichten konnte. Lichonossows Haftzeit waren fünfzehn Jahre, und der Artikel nicht achtundfünfzig, sondern neunundfünfzig – so seine eigene Antwort.
    Der fünfte – Nikischow. Nikischow war mein Sanitäter im Ambulatorium, ein Kranker. So einen Sanitäter gibt es in allen Lagerambulatorien. Aber Nikischow war zu jung, etwa fünfundzwanzig, und zu rotwangig. Über ihn musste man nachdenken.
    Als ich Nummer sechs aufschrieb, klopfte es an der Tür, und auf der Schwelle meines Zimmers in der freien Baracke stand Leonow – Nummer sechs auf meiner Liste. Ich setzte ein Fragezeichen hinter den Namen Leonow und wandte mich dem Eingetretenen zu.
    In Leonows Hand waren zwei Aufnehmer und eine Schüssel. Natürlich nicht das staatliche Modell einer Schüssel, sondern das von der Kolyma, kunstvoll hergestellt aus Konservendosen. Im Badehaus gab es ebenfalls solche Konservenschüsseln.
    »Wie haben sie dich bei der Wache durchgelassen um diese Zeit, Leonow?«
    »Sie kennen mich, ich habe immer die Böden gewischt beim früheren Feldscher. Der war ein sehr reinlicher Mensch.«
    »Naja, ich bin nicht so reinlich. Heute muss man nicht wischen. Geh ins Lager.«
    »Und für die anderen Freien? …«
    »Auch nicht nötig. Sie wischen selbst.«
    »Ich wollte Sie bitten, Bürger Feldscher, lassen Sie mich auf diesem Platz.«
    »Du bist ja auf gar keinem Platz.«
    »Naja, sie haben mich als irgendwen verbucht. Ich werde die Böden wischen, es wird sauber sein, vollkommene Ordnung, ich bin krank, innen tut mir etwas weh.«
    »Du bist nicht krank, du betrügst die Ärzte nur.«
    »Bürger Feldscher, ich habe Angst vor der Grube, habe Angst vor der Brigade, habe Angst vor den allgemeinen Arbeiten.«
    »Jeder hat Angst. Du bist ein völlig gesunder Mensch.«
    »Sie sind ja kein Arzt.«
    »Das stimmt, kein Arzt, aber – entweder gehst du morgen zu den allgemeinen Arbeiten, oder ich schicke dich in die Verwaltung. Dort sollen dich die Ärzte untersuchen.«
    »Ich warne Sie, Bürger Feldscher, ich werde nicht weiterleben, wenn man mich von dieser Arbeit entlässt. Ich werde mich beschweren.«
    »Genug geschwatzt, geh. Morgen in die Brigade. Du hörst auf, mich zu verkohlen.«
    »Ich verkohle Sie nicht.«
    Leonow schloss geräuschlos die Tür. Unter dem Fenster schlurften seine Schritte, und ich legte mich schlafen.
    Beim Ausrücken fehlte Leonow, und nach Meinung Tkatschuchs war Leonow wohl in ein Fahrzeug gestiegen und längst in Adygalach, um sich zu beschweren.
    Gegen zwölf Uhr mittags, an einem schönen Tag im Altweibersommer, die kalte Sonne der Kolyma stand mit blendenden Strahlen am tiefblauen Himmel, in der kalten, windstillen Luft, rief man mich in Tkatschuchs Kabinett.
    »Gehen wir ein Protokoll schreiben. Der Häftling Leonow hat sich umgebracht.«
    »Wo denn?«
    »Er hängt im ehemaligen Pferdestall. Ich habe verboten, ihn abzunehmen. Ich habe nach dem Bevollmächtigten geschickt. Und du als Mediziner wirst den Tod bezeugen.«
    Sich im Pferdestall aufzuhängen war schwer, er war eng. Der Körper Leonows nahm den Platz zweier Pferde ein, die einzige Erhebung, auf die er gestiegen war, um sie wegzutreten, war die Badehausschüssel. Leonow hing schon lange – der Striemen zeichnete sich am Hals ab. Der Bevollmächtigte, eben jener, für den der freie Badewärter Ismajlow die Wäsche wusch, schrieb: »Strangulationsfurche verläuft …« Tkatschuk sagte:
    »Bei den Topographen gibt es ja die Triangulation. Hat das mit der Strangulation zu tun?«
    »Überhaupt nicht«, sagte der Bevollmächtigte.
    Und wir alle unterschrieben das Protokoll. Der Häftling Leonow hatte keinen Brief hinterlassen. Leonows Leiche wurde weggefahren, um ihm ein Schildchen mit der Nummer seiner Akte an den linken Fuß zu binden und ihn im Stein des Dauerfrostbodens zu vergraben, wo der Verstorbene bis zum Jüngsten Gericht oder zu einer anderen Auferstehung der Toten warten wird. Und ich begriff plötzlich, dass es für mich schon zu spät war, die Medizin und das Leben zu lernen.
    1970

Iwan Bogdanow
    Iwan Bogdanow, ein Namensvetter des Chefs des Reviers am Schwarzen See, war ein schöner blonder grauäugiger Mann von athletischem Körperbau. Bogdanow war nach Artikel hundertneun – für Dienstvergehen – zu zehn Jahren verurteilt, aber er kannte sich

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