Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
heute ein Held und morgen ein Verbrecher, und er weiß selbst nicht – ist er ein Verbrecher oder nicht.
Andrussenko war verurteilt zu zehn Jahren wegen Marodierens. Das Gesetz war eben erst verabschiedet. Leutnant Andrussenko wurde davon getroffen – und aus dem sowjetischen Militärgefängnis in Berlin brachte man ihn an die Kolyma. Je länger, desto schwerer wurde es nachzuweisen, dass er ein wahrer Held der Sowjetunion ist, dass er diesen Titel, dass er Orden besitzt. Die Zahl der falschen Helden nahm ständig zu. Die Verhaftungen und Entlarvungen von Hochstaplern und ihre Bestrafung taten es ebenfalls, mit Verzögerung um einige Monate. 1949 wurde von den Frontkämpfern in unserer Leitung der Oberarzt, ein Held der Sowjetunion verhaftet – kein Held und kein Arzt. Andrussenkos Beschwerden blieben ohne Antwort. Im Unterschied zu anderen Häftlingen, die aus dem Krieg an die Kolyma gekommen waren, hatte Andrussenko einen Zeitungsausschnitt aus der Frontzeitung von 1945 mit seinem Photo aufbewahrt. Fragin, als örtliche KWTsch und früherer Mitarbeiter des SMERSch, wusste seine Aufrichtigkeit zu schätzen und beförderte Andrussenkos Freilassung.
Ich hatte mein Leben lang einen starken Sinn für Gerechtigkeit, ich bin unfähig, Ereignisse nach groß und klein zu unterscheiden. Und aus diesem Krankenhaus, beim Klang dieser Namen – Andrussenko, Fragin – erinnere ich mich am deutlichsten an ein Schachturnier für Häftlinge, von Fragin organisiert, mit einer riesigen Tafel, die im Vestibül des Krankenhauses hing, einer Tafel zum Verlauf des Turniers. Nach Berechnungen Fragins musste Andrussenko den ersten Platz machen, und der Preis, ein Geschenk, war schon gekauft. Es war ein Taschenschachspiel, so groß wie ein ledernes Zigarettenetui. Dieses Zigarettenetui hatte der Chef, ohne das Ende des Wettkampfs abzuwarten, Andrussenko schon geschenkt – aber das Turnier gewann ich. Und bekam keinen Preis.
Portugalow, der versuchte, Einfluss auf die Leitung auszuüben, scheiterte komplett, und Fragin, der zu den Häftlingen in den Korridor hinaustrat, erklärte, dass die KWTsch nicht die Mittel hat, einen Preis zu kaufen. Sie hat sie nicht, und Schluss.
Vergangen sind der Krieg, der Sieg, die Entthronung Stalins, der Zwanzigste Parteitag, scharf gewendet hat sich die Linie meines Lebens – ich bin seit vielen Jahren in Moskau, aber die ersten Nachkriegsjahre bedeuten für mich diesen Stich gegen meine Eigenliebe, Fragins Ausfall gegen mich. Hunger und Erschießungen werden neben einer solchen Bagatelle erinnert. Übrigens war Fragin nicht nur zu Bagatellen fähig.
Ich war umgezogen ins Krankenhaus, in die Aufnahme, und aus dienstlicher Verpflichtung begegneten er und ich uns öfter. Damals war Fragin von der Stelle bei der KWTsch zur URTsch gewechselt, in die Registratur, die die Angelegenheiten der Häftlinge verwaltete, und bewies Eifer und Wachsamkeit. Ich hatte einen Sanitäter, Grinkewitsch, einen guten Jungen, der sichtlich zu Unrecht ins Lager geraten war, auch er aus dem Krieg, in diesem trüben Strom von Pseudogenerälen und getarnten Ganoven. Grinkewitschs Familie hatte viele Eingaben und Beschwerden geschrieben, und es war zur Revision des Verfahrens und zur Aufhebung des Urteils gekommen. Oberstleutnant Fragin rief Grinkewitsch zur Bekanntgabe nicht in seine URTsch, sondern erschien selbst bei mir in der Aufnahme und las Grinkewitsch mit lauter Stimme den Text des erhaltenen Dokuments vor.
»Sehen Sie, Bürger Schalamow«, sagte Fragin, »die Richtigen lässt man frei. Alle Fehler werden korrigiert, und die Falschen lässt man nicht frei. Haben Sie verstanden, Bürger Schalamow?«
»Vollkommen, Bürger Natschalnik.«
Als ich unter Anrechnung der Arbeitstage im Oktober 1951 freikam, äußerte sich Fragin aufs Entschiedenste dagegen, dass ich – bis zum Frühling, bis zur neuen Schifffahrtsperiode – als Freier im Krankenhaus arbeite. Doch das Eingreifen des damaligen Krankenhauschefs N. Winokurow entschied die Sache. Winokurow versprach, mich im Frühjahr mit der Etappe loszuschicken, mich nicht ins feste Personal zu übernehmen, und bis zum Frühjahr würde er einen Mitarbeiter für die Aufnahme auswählen. Juristisch bestand diese Möglichkeit, existierte ein solcher Status.
Aus dem Lager Entlassene hatten Anspruch auf eine staatlich finanzierte Etappe aufs Große Land. Als Vertragsarbeiter zu fahren, war zu teuer – die Karte nach Moskau kostete vom Linken Ufer der Kolyma mehr als
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