Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
dreitausend Rubel, von den Preisen für Lebensmittel ganz zu schweigen; das größte Unglück, die größte Misslichkeit des menschlichen Lebens ist die Notwendigkeit, drei oder vier Mal am Tag zu essen. In der Etappe gab es unterwegs Verpflegung, die Kantinen, die Kessel in den Häftlings- und Transitbaracken. Manchmal in ein und denselben Baracken: Bei der Reise in die eine Richtung nennt sich die Baracke Etappe, bei der Reise in die andere – »Karpunkt« (das heißt Quarantäne-Punkt). Die Baracken sind dieselben, und keinerlei Schilder hinter den Stacheldrahtzäunen.
Kurz, über den Winter 1951/1952 blieb ich im Krankenhaus Feldscher in der Aufnahme im Status eines »im Aufbruch Befindlichen«. Im Frühjahr wurde ich nicht losgeschickt, und der Krankenhauschef gab mir sein Wort, mich im Herbst loszuschicken. Aber auch im Herbst schickte er mich nicht los.
»Weißt du«, schnatterte während des Dienstes in der Aufnahme der junge neue Psychiater Doktor Schafran, ein Liberaler und Schwadroneur, der Wohnungsnachbar des Oberstleutnants, »wenn du willst, erzähle ich dir, warum du noch im Krankenhaus, warum du nicht in der Etappe bist?«
»Erzähl, Arkadij Dawydowitsch.«
»Du warst schon auf den Listen, schon seit dem Herbst, sie stellten schon ein Fahrzeug zusammen. Und du wärst gefahren, wenn nicht Oberstleutnant Fragin gewesen wäre. Er schaute in deine Dokumente und begriff, was du für einer bist. ›Berufstrotzkist und Volksfeind‹, so steht es in deinen Dokumenten. Allerdings ist das eine Aktennotiz von der Kolyma, nicht von Moskau. Aber aus der Luft schreibt man ja keine Aktennotiz. Fragin kommt aus der Moskauer Schule, er hat gleich begriffen, hier muss man Wachsamkeit zeigen, und im Ergebnis hat man nur Nutzen.«
»Danke, dass Sie es mir gesagt haben, Doktor Schafran. Ich merke ihn mir, den Oberstleutnant Fragin.«
»Kultur der Betreuung«, rief Schafran fröhlich. »Wenn irgendein Unterleutnant die Listen vorbereitet hätte, aber Fragin – er ist General. Generalswachsamkeit.«
»Oder Generalsfeigheit.«
»Aber Wachsamkeit und Feigheit sind beinahe dasselbe in unseren Tagen. Und wohl nicht nur in unseren«, sagte der junge Arzt, der eine Ausbildung zum Psychiater hatte.
Ich machte eine schriftliche Eingabe über die Abrechnung, erhielt aber die Anordnung Winokurows: »Entlassen gemäß Arbeitsgesetzbuch«. Damit verlor ich die Ansprüche des »im Aufbruch Befindlichen« und den Anspruch auf die kostenlose Fahrt. Ich hatte keine Kopeke verdient, doch natürlich dachte ich nicht daran, meine Entscheidung zu ändern. Ich hatte den Pass in der Hand, wenn auch ohne polizeiliche Meldung – die Meldung wird an der Kolyma anders gemacht als auf dem Großen Land, alle Stempel drückt man im Nachhinein auf, bei der Entlassung. Ich hoffte, in Magadan die Erlaubnis zur Ausreise zu bekommen, zur Aufnahme in die mir vor einem Jahr entgangene Etappe. Ich verlangte die Dokumente, ließ mir mein erstes und letztes Arbeitsbuch ausstellen, ich besitze es noch heute, packte meine Sachen, verkaufte alles Überflüssige – einen Halbpelz, ein Kissen –, verbrannte meine Gedichte in der Desinfektionskammer der Aufnahme und suchte eine Fahrgelegenheit nach Magadan. Diese Gelegenheit suchte ich nicht lange.
In derselben Nacht weckte mich Oberstleutnant Fragin mit zwei Begleitposten, nahm mir den Pass ab, versiegelte den Pass mitsamt irgendeinem Papier in einem Paket und händigte das Paket dem Begleitposten aus. Er wies mit der Hand in den Raum:
»Dort übergibst du ihn.«
Er – das bin ich.
Über viele Jahre Haft hatte ich mich daran gewöhnt, einige Achtung zu empfinden vor der Uniform des »Mannes mit Gewehr«, hatte Millionen Male millionenfach größere Willkür gesehen – Fragin war nur ein schüchterner Schüler seiner zahlreichen Lehrer von höchstem Rang –, ich schwieg und beugte mich dem beleidigend willkürlichen, unerwarteten Schlag in den Rücken. Handschellen wurden mir zwar nicht angelegt, aber man zeigte mir deutlich genug meinen Platz und was ein ehemaliger
seka
ist in unserer ernsten Welt. Noch einmal fuhr ich mit Begleitposten diese fünfhundert Werst bis Magadan, die ich so oft gefahren war. In der Kreisabteilung von Magadan nahmen sie mich nicht, und der Begleitposten stand auf der Straße und wusste nicht, wo mich abgeben. Ich riet dem Begleitposten, mich der Kaderabteilung der Sanitätsabteilung zu übergeben, in die man mich als Entlassenen auch hätte schicken sollen. Der Chef der
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