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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Länge unserer Baracke zog sich, wie in allen Baracken, ein langer Tisch mit zwei langen Bänken daran.
    Mit dem Rücken zu mir saß in Wattejoppe und Halbpelz ein Mann. Er drehte das Gesicht zu mir. Das war Iwan Bogdanow.
    Wir begrüßten uns.
    »Komm, lass uns wenigstens einen Tee trinken zum Empfang, sein Stück Brot hat jeder selbst«, sagte ich und ging meinen Becher holen. Iwan zog seinen Becher und Brot hervor. Wir tranken Tee.
    »Den Schwarzen See haben sie geschlossen, nicht mal ein Wächter ist mehr da. Schluss, alle abgereist. Ich als Prüfer mit dem letzten Trupp und hierher. Ich dachte, bei euch ist es besser mit Lebensmitteln. Habe mich darauf verlassen, ich hätte Konserven horten können. Jetzt habe ich nur ein Dutzend Zwiebeln unten im Sack – ich wusste nicht, wohin damit, und habe sie in den Sack gesteckt.«
    Ich wurde blass.
    »Zwiebeln?«
    »Ja, Zwiebeln. Was wirst du so nervös?«
    »Gib hierher!«
    Iwan Bogdanow drehte den Sack um. Etwa fünf Zwiebeln polterten auf den Tisch.
    »Ich hatte mehr, aber ich habe sie unterwegs verteilt.«
    »Egal wie viele. Zwiebeln! Zwiebeln!«
    »Was denn, habt ihr hier Skorbut?«
    »Nein, nicht Skorbut, ich erzähle dir alles hinterher. Nach dem Tee.« Ich erzählte Bogdanow meine ganze Geschichte.
    Dann arbeitete Iwan Bogdanow in seinem Beruf in der Buchhaltung des Lagers und erlebte in Arkagala den Ausbruch des Kriegs. Arkagala war die Revierverwaltung – die Treffen zwischen
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und litjorka mussten ein Ende haben. Aber manchmal sahen wir uns und erzählten einander etwas.
    Einundvierzig, als das erste Unwetter – der Versuch, mir ein falsches Verfahren über einen Unfall im Schacht anzuhängen – über meinem Kopf niederging, scheiterte alles am unerwarteten Starrsinn meines Partners, der den Unfall auch verursacht hatte, des Schwarzmeermatrosen und
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Tschudakow. Als Tschudakow nach dem Absitzen der drei Monate im Isolator wieder freikam, das heißt in die Zone, und wir uns sahen, erzählte mir Tschudakow die Details seiner Untersuchung. Ich erzählte von all dem Bogdanow, nicht um ihn um Rat zu fragen – Ratschläge braucht nicht nur keiner an der Kolyma, man hat auch nicht das Recht auf Ratschläge, die die Psyche dessen belasten können, mit dem man sich beraten möchte, und die durch den umgekehrten Wunsch zu unerwarteten Ausbrüchen führen können – im besten Fall antwortet er nicht, beachtet dich nicht, hilft dir nicht.
    Bogdanow interessierte mein Problem.
    »Ich frage nach! Bei ihnen frage ich nach«, sagte er und zeigte mit ausdrucksvoller Geste auf den Horizont, Richtung Pferdestützpunkt, wo sich das Häuschen des Bevollmächtigten duckte. »Ich frage nach. Ich habe ja bei ihnen gearbeitet. Ich bin Zuträger. Vor mir verbergen sie nichts.«
    Aber Iwan hatte nicht die Zeit, sein Versprechen einzulösen. Man hatte mich schon in die Spezialzone Dshelgala verlegt.
    1970-1971

Jakow Owsejewitsch Sawodnik
    Jakow Owsejewitsch Sawodnik war älter als ich – zur Revolutionszeit war er ungefähr zwanzig, vielleicht sogar fünfundzwanzig. Er kam aus einer riesigen Familie, aber keiner von denen, die eine Zierde der Jeschiwot wären. Trotz seines typischen deutlich jüdischen Äußeren – schwarzer Bart, schwarze Augen, lange Nase – sprach Sawodnik kein Jiddisch, auf Russisch hielt er kurze zündende Reden, Losungsreden, Kommandoreden, und ich konnte mir Sawodnik leicht in der Rolle des Kommissars im Bürgerkrieg vorstellen, der die Rotarmisten zum Angriff auf die Koltschak-Schützengräben aufstachelte und durch sein persönliches Beispiel ins Gefecht mitriss. Sawodnik war tatsächlich Kommissar – im Krieg Kommissar an der Koltschak-Front, er hatte zwei Rotbannerorden . Als Großmaul, als Raufbold, als einer, der ordentlich trinken konnte, »eine lockere Hand«, wie man in der Ganovensprache sagt, hatte Sawodnik seine besten Jahre, seine Leidenschaft und die Rechtfertigung seines Lebens in Aktionen im Hinterland und in die Gefechte, in die Attacken gesteckt. Sawodnik war ein hervorragender Kavallerist gewesen. Nach dem Bürgerkrieg arbeitete Sawodnik in Weißrussland, in Minsk, im Staatsapparat, gemeinsam mit Selenskij , mit dem er sich während des Bürgerkriegs angefreundet hatte. Selenskij war es auch, der nach seiner Übersiedlung nach Moskau Sawodnik zu sich ins Volkskommissariat für Handel holte.
    1937 wurde Sawodnik »in der Selenskija-Affäre« verhaftet, aber nicht erschossen, sondern er bekam fünfzehn Jahre Lager, was für

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