Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
gestellt, und wenn sie doch gestellt wurde, dann als formalistisches Schreiben oder romantischer Traum. Diese beiden Begriffe haben sehr viel gemeinsam, und irgendwann werden das die Historiker, die Literaturwissenschaftler, die Philosophen begreifen.
Der Wald wächst an der Kolyma in den Felsspalten, den Talkesseln, in den Betten der Flüsschen. Und so ritt Sawodnik auch alle großen Flüsschen und Quellen rund um das Krankenhaus ab, seinen Bericht unterbreitete er dem Krankenhauschef. Krankenhauschef war damals Winokurow, ein Profiteur, aber kein Schurke, keiner, der den Menschen Böses wünscht. Die Waldaußenstelle wurde eröffnet, das Holz eingeschlagen. Natürlich arbeiteten hier, wie in allen Krankenhäusern, gesunde Menschen und nicht Kranke – nun ja, GP oder GK, die schon längst zurück ins Bergwerk mussten, aber einen anderen Ausweg gab es nicht. Winokurow galt als guter Wirtschaftler. Eine Schwierigkeit lag auch darin, dass eine gewisse Menge an Brennmaterial (eine sehr große!), an jeder Erfassung vorbei, für den Reservebestand eingeschlagen werden musste, aus dem Bevollmächtigte, lokale Wirtschaftler und der Chef selbst gewohnt waren, unkontrolliert und unbeschränkt, völlig kostenlos und unbegrenzt zu schöpfen. Im Krankenhaus bezahlt solche Güter wie das Holz die mittlere Schicht der Vertragsarbeiter, die hohen Chefs bekommen alles kostenlos, und das ist keine geringe Summe.
Zum Leiter dieser komplizierten Küche des Holzeinschlags und Lagerns wurde Jakow Sawodnik bestimmt. Kein Idealist, ließ er sich gern darauf ein, Produktion und Lagerhaus zu leiten und nur dem Chef unterstellt zu sein. Und gemeinsam mit dem Chef bestahl er den Staat skrupellos jeden Tag und jede Stunde. Der Chef empfing Gäste von der ganzen Kolyma, hielt einen Koch und einen gastfreien Tisch, Sawodnik aber, der Chef des Brennstofflagers, stand mit dem Kochgeschirr am Essensbehälter, wenn das Mittagessen gebracht wurde. Sawodnik war einer jener Lagerbrigadiere und ehemaligen Parteimitglieder, die öffentlich essen, immer mit der Brigade, und für sich nicht die kleinste Vergünstigung weder in der Kleidung noch im Essen beanspruchen, mit Ausnahme vielleicht des schwarzen Barts.
Ich machte es selbst auch immer so, als ich als Feldscher arbeitete. Im Frühjahr 1949 musste ich das Krankenhaus verlassen, nach einem großen und akuten Konflikt, in den auch Magadan hineingezogen war. Und ich wurde als Feldscher zu Sawodnik in den Wald geschickt, in die Waldaußenstelle etwa fünfzig Kilometer vom Krankenhaus, an die Quelle der Duskanja.
»Schon den dritten Feldscher entlässt Sawodnik, keiner gefällt ihm, der Kanaille.«
Das gaben mir die Kameraden mit.
»Und von wem werde ich die Sanitätsabteilung übernehmen?«
»Von Grischa Barkan.«
Grischa Barkan kannte ich, wenn auch nicht persönlich, sondern von fern. Barkan war ein repatriierter Militärfeldscher, der vor einem Jahr zur Arbeit im Krankenhaus abgestellt wurde und in der Tuberkuloseabteilung arbeitete. Von diesem Grischa sagten die Kameraden nicht viel Gutes, aber ich hatte mir angewöhnt, wenig auf Gespräche über Informanten und Zuträger zu achten. Zu hilflos bin ich vor dieser höchsten Macht der Natur. Doch es kam so, dass im Redaktionskollegium einer Wandzeitung, die wir zu irgendeinem festlichen Jahrestag herausbrachten, die Frau unseres neuen Bevollmächtigten Baklanow saß. Ich erwartete sie am Kabinett ihres Mannes, ich war gekommen, um die zensierten Zeitungsnotizen bei ihr abzuholen, und auf mein Klopfen hörte ich eine Stimme: »Herein!« Und trat ein.
Die Frau des Bevollmächtigten saß auf dem Sofa, und Baklanow führte eine Gegenüberstellung durch.
»Sie, Barkan, schreiben in Ihrer Eingabe, dass Saweljew, der Feldscher (er war ebenfalls hierher einbestellt worden), dass Saweljew auf die Sowjetmacht geschimpft und die Faschisten gelobt hat. Wo war das? Im Krankenbett. Und was hatte Saweljew zu dieser Zeit für eine Temperatur? Vielleicht war er im Fieberwahn. Nehmen Sie ihre Eingabe.«
Und so erfuhr ich, dass Barkan Zuträger ist. Baklanow selbst machte – als einziger Bevollmächtigter in meinem ganzen Lagerleben – nicht den Eindruck eines echten Untersuchungsführers, natürlich war er kein Tschekist. Er war direkt von der Front an die Kolyma gekommen, in Lagern hatte er niemals gearbeitet. Und hatte es nicht gelernt. Weder Baklanow noch seiner Frau gefiel die Arbeit an der Kolyma. Nach dem Ableisten ihrer Dienstzeit kehrten beide aufs
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