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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Anfang siebenunddreißig eine lange Haftzeit war. Genauso wie bei mir verfügte sein Moskauer Urteil das Abbüßen der Haft an der Kolyma.
    Sein wilder Charakter und die blinde Raserei, die Sawodnik in wichtigen Momenten des Schicksals ergriff und ihn dazu brachte, den Koltschak-Kugeln entgegenzuspringen, verließen Sawodnik auch während der Untersuchung nicht. In Lefortowo stürzte er sich von der Bank auf den Untersuchungsführer und versuchte ihn zu schlagen für seinen Vorschlag, den Volksfeind Selenskij zu entlarven. Man brach Sawodnik in Lefortowo den Oberschenkel und brachte ihn damit für lange Zeit ins Krankenhaus. Als der Oberschenkelknochen zusammengewachsen war, schickte man Sawodnik an die Kolyma. Mit dem Hinken aus Lefortowo lebte Sawodnik auch in den Bergwerken und Strafzonen.
    Sawodnik wurde nicht erschossen, er bekam fünfzehn Jahre plus fünf »auf die Hörner«, das heißt Aberkennung der bürgerlichen Rechte. Sein Mitangeklagter Selenskij war längst auf dem Mond . Sawodnik hatte in Lefortowo alles unterschrieben, was sein Leben retten konnte, Selenskij war erschossen, und das Bein war gebrochen.
    »Ja, ich habe alles unterschrieben, was sie mir vorgelegt haben. Nachdem sie mir den Oberschenkel gebrochen hatten und der Knochen zusammengewachsen war, wurde ich aus dem Butyrka-Krankenhaus entlassen und zur Fortsetzung der Untersuchung nach Lefortowo gebracht. Ich habe alles unterschrieben, ohne ein einziges Protokoll zu lesen. Selenskij war zu der Zeit schon erschossen.«
    Als man im Lager nach dem Ursprung des Hinkens fragte, antwortete Sawodnik: »Das ist noch aus dem Bürgerkrieg.« Aber tatsächlich lag der Ursprung des Hinkens in Lefortowo.
    An der Kolyma führten Sawodniks wilder Charakter und die Anfälle von Raserei schnell zu einer ganzen Reihe von Konflikten. Während seines Lebens in den Bergwerken wurde Sawodnik für seine lautstarken und heftigen Streitereien, ausgelöst durch unbedeutende Bagatellen, mehrmals von Soldaten und Aufsehern verprügelt. So zettelte Sawodnik eine Schlägerei, eine richtige Schlacht mit den Aufsehern der Strafzone an, weil er sich Bart und Haare nicht scheren lassen wollte. In den Lagern werden alle maschinell geschoren; ihre Frisur, die Haare zu behalten, ist für die Häftlinge ein gewisses Privileg, eine Aufmunterung, die sich kein Häftling versagt. Die medizinischen Arbeiter unter den Häftlingen beispielsweise dürfen ihre Haare tragen, und das weckt immer allgemeinen Neid. Sawodnik war nicht Arzt und nicht Feldscher, aber dafür war sein Bart dicht, schwarz und lang. Und die Haare keine Haare, sondern Flammen eines schwarzen Feuers. Um seinen Bart vor dem Scheren zu bewahren, stürzte sich Sawodnik auf den Aufseher und bekam einen Monat
štrafnjak
– Strafisolator –, aber trug weiter Bart und [wurde] von den Aufsehern mit Gewalt geschoren. »Acht Mann haben mich gehalten«, sagte Sawodnik stolz, der Bart wuchs nach, und Sawodnik trug [ihn] wieder offen und provozierend.
    Der Kampf um diesen Bart war Selbstbestätigung für den ehemaligen Frontkommissar, sein moralischer Sieg nach so vielen moralischen Niederlagen. Nach zahlreichen Abenteuern landete Sawodnik schließlich für lange Zeit im Krankenhaus.
    Es war klar, dass er keine Revision seines Verfahrens erzwingen konnte. Es blieb, zu warten und zu leben.
    Irgendjemand hatte der Leitung geraten, den Charakter, das Wesen des Bürgerkriegshelden, sein großes Maul, sein Ungestüm, seine persönliche Redlichkeit und unbändige Energie durch sein Einsetzen als Lagervorarbeiter oder Brigadier zu nutzen. Doch von legaler fester Arbeit konnte für Volksfeinde, für Trotzkisten gar keine Rede sein. Und da erscheint Sawodnik als Mitglied des Genesungstrupps des bekannten GP (Genesungspunkts), eines GK – Genesungstrupps –, er erscheint mit einer Art Refrain:
    Erst GP und dann GK
    An den Fuß ein Schildchen, und das war’s!
    Aber Sawodnik bekam kein Schildchen an den linken Knöchel gebunden, wie man es bei der Beerdigung eines Lagerinsassen tut. Sawodnik fing an, für das Krankenhaus Brennholz zu bereiten.
    Auf dem Planeten, auf dem zehn Monate im Jahr Winter ist, ist das eine sehr wichtige Sache. Hundert Mann hält das Zentrale Häftlingskrankenhaus rund um das Jahr bei dieser Arbeit. Eine Lärche braucht bis zur Reife dreihundert, fünfhundert Jahre. Die dem Krankenhaus zugewiesenen Holzeinschläge waren natürlich Räuberei. Die Frage der Erneuerung der Waldbestände wurde an der Kolyma nicht

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