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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Bachajga fahren – vierzig Kilometer kolymaaufwärts, wo unser Abschnitt war, lebten Häftlinge am Ufer, und auf einer meiner Rundreisen musste ich dorthin. Die Strömung in der Kolyma ist stark – das Schnellboot braucht für diese vierzig Kilometer aufwärts zehn Stunden. Zurück kommt man auf dem Floß in einer Stunde, sogar weniger. Der Motorbootfahrer auf dem Schnellboot war ein Freier, sogar ein Vertragsarbeiter, Mechaniker, ein defizitärer Beruf; wie jeder Motorbootfahrer und Mechaniker an der Kolyma war er bei Abfahrt seines Bootes stark betrunken, aber auf verständige, auf Kolyma-Art betrunken, er stand auf den Beinen und unterhielt sich vernünftig, nur sein Atem roch schwer nach Schnaps. Der Motorbootfahrer bediente die Transporte der Holzfäller. Das Schnellboot sollte schon gestern ablegen, fuhr aber erst beim Morgengrauen der weißen Kolyma-Nacht. Von meiner Reise wusste der Motorbootfahrer natürlich, aber irgendein Natschalnik, oder der Bekannte eines Natschalniks, oder einfach ein Passagier hatte sich für teures Geld in das Schnellboot gesetzt, das Dampf anließ, und wartete, das Gesicht abgewandt, bis der Motorbootfahrer das Gespräch mit mir beendet und mich abweist.
    »Kein Platz. Nein, habe ich gesagt. Du fährst das nächste Mal.«
    »Aber du hast doch gestern …«
    »Wer weiß, was ich gestern gesagt habe … Und heute habe ich es mir überlegt. Geh vom Anleger.«
    Eingestreut wird in all das ein erlesenes Kolyma-Gefluche, Lagergekeife.
    Sawodnik wohnte nicht weit, auf dem Hügel, im Zelt, und zog sich zum Schlafen nicht aus. Er begriff gleich, was los ist, und sprang im bloßen Hemd ans Ufer, ohne Mütze, irgendwie in die Gummistiefel geschlüpft. Der Motorbootfahrer stand in hohen Gummistiefeln im Wasser, am Schnellboot, und ließ das Boot ins Wasser. Sawodnik kam direkt bis ans Wasser:
    »Was ist, du willst den Feldscher nicht mitnehmen?« Der Motorbootfahrer richtete sich auf und wandte sich Sawodnik zu:
    »Nein! Ich nehme ihn nicht mit. Nein habe ich gesagt, und Schluss!« Sawodnik schlug dem Motorbootfahrer mit der Faust ins Gesicht, und der fiel um und verschwand unter Wasser. Ich dachte schon, dass ein Unglück geschehen wäre, aber der Motorbootfahrer stand auf, das Wasser floss aus seinem Segeltuchoverall. Am Boot angekommen, stieg er schweigend an seinen Platz und ließ den Motor an. Ich setzte mich mit meiner Medizintasche an die Bordwand, streckte die Beine aus, und das Schnellboot legte ab. Es war noch nicht dunkel, als wir an der Bachajga-Mündung anlegten.
    Sawodniks gesamte Energie, seine gesamten seelischen Kräfte konzentrierten sich auf die Erfüllung der Wünsche des Krankenhauschefs Winokurow. Hier bestand ein stillschweigender Vertrag zwischen Herr und Sklave. Der Herr übernimmt die volle Verantwortung dafür, dass er einen Volksfeind, einen Trotzkisten deckt, dessen Los es ist, in Sonderzonen zu leben, und der dankbare Sklave, der weder die Anrechnung der Arbeitstage noch irgendwelche Milderung erwartet, erzeugt für den Herrn materielle Güter in Gestalt von Holz, frischem Fisch, Wild, Beeren und sonstigen Gaben der Natur. Seine Holzfäller führt Sawodnik mit fester Hand, und er trägt nur staatliche Kleidung, und er isst aus dem allgemeinen Kessel. Der Sklave versteht, dass es nicht in der Macht seines Herrn steht, Anträgen auf vorfristige Freilassung stattzugeben, doch der Herr lässt den Sklaven sein Leben erhalten – im ganz buchstäblichen, ganz elementaren Wortsinn. Sawodnik wurde freigelassen nach der Haftzeit, nach der kalendarischen Haftzeit von fünfzehn Jahren, eine Anrechung von Arbeitstagen kam bei seinem Artikel nicht in Frage. Sawodnik wurde 1952 am Tag des Endes seiner kalendarischen Haftzeit von fünfzehn Jahren freigelassen, zu der er 1937 in Moskau, im Lefortowo-Gefängnis verurteilt wurde. Sawodnik hatte längst begriffen, dass eine Revision des Verfahrens zu beantragen nutzlos ist. Auf keine einzige seiner Beschwerden der ersten naiven Jahre an der Kolyma hatte Sawodnik Antwort bekommen. Sawodnik befasste sich ewig mit Projekten wie der Einrichtung eines »Eisschlittens« für die Holzeinschläge, er erfand und baute für die Holzfäller einen Waggon auf Rädern, vielmehr nicht auf Rädern, sondern auf Traktorkufen. Die Brigade konnte sich auf die Suche nach Holz machen. Der Wald an der Kolyma ist ja licht, die Waldtundra-Zone, dicke Bäume gibt es nicht; um nicht Zelte aufzustellen und nicht Hütten zu bauen, entwarf er einen

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