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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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auf die Rente »wartet«, formal fehlen noch ein paar Monate. Ich beklagte, dass es Jarozkij nicht gelungen war, nach Leningrad zurückzukehren, obwohl er sich viel früher von der Kolyma getrennt hatte als Sawodnik und ich, und dass er jetzt in Kischinjow leben muss.
    Jarozkijs Verfahren, das Verfahren eines Leningrader Komsomolzen, der für die Opposition gestimmt hatte, kannte ich sehr gut. Es gab keinerlei Gründe, warum er nicht in der Hauptstadt leben sollte, aber Sawodnik sagte plötzlich:
    »Die Regierung weiß es besser. Bei uns, bei mir und bei Ihnen ist ja alles klar, aber bei Jarozkij ist es bestimmt ganz anders …«
    Ich habe Jakow Owsejewitsch Sawodnik nie wieder besucht, obwohl ich noch immer sein Freund bin.
    1970-1971

Der Mann vom Dampfer
    »Schreiben Sie, Krist, schreiben Sie«, sagte der alte müde Arzt.
    Es war nach zwei Uhr morgens, der Kippenberg auf dem Tisch des Behandlungsraums wuchs. An den Fensterscheiben klebte flauschiges dickes Eis. Lila Marchorkanebel füllte das Zimmer, aber das Klappfenster zu öffnen und das Kabinett zu lüften war keine Zeit. Wir hatten die Arbeit gestern Abend um acht Uhr begonnen, und sie nahm kein Ende. Der Arzt rauchte Papirossa um Papirossa, drehte sie rasch »auf Flottenart« und riss Blätter aus der Zeitung. Oder er drehte sich – wenn er ein bisschen ausruhen wollte, einen »Geißfuß« . Die nach Bauernart vom Machorkarauch verbrannten Finger tanzten vor meinen Augen, das standfeste Tintenfass klapperte wie eine Nähmaschine. Die Kräfte des Arztes gingen zur Neige – die Augen fielen ihm zu, weder die »Geißfüße« noch die »Flotten«-Papirossy konnten die Müdigkeit besiegen.
    »Und einen
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? Einen
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aufkochen …«, sagte Krist.
    »Und wo nimmst du ihn her, den
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…«
    Tschifir
war besonders starker Tee – Labsal der Ganoven und der Fahrer auf dem weiten Weg – fünfzig Gramm auf ein Glas, ein besonders verlässliches Mittel gegen den Schlaf, die Währung der Kolyma, die Währung der endlosen Strecken, der vieltägigen Fahrten.
    »Ich mag ihn nicht«, sagte der Arzt. »Übrigens, eine zerstörerische Wirkung auf die Gesundheit sehe ich im
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nicht. Ich habe nicht wenige
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-Trinker gesehen. Und dieses Mittel ist auch schon lange bekannt. Nicht die Ganoven haben es sich ausgedacht und nicht die Fernfahrer. Jacques Paganel kochte in Australien
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, bot das Getränk den Kindern von Käpt’n Grant an. ›Auf einen Liter Wasser ein halbes Pfund Tee und drei Stunden kochen‹, das ist das Rezept von Paganel … Und Sie sagen ›die Fahrer‹!, die Ganoven! Es gibt auf der Welt nichts Neues.«
    »Legen Sie sich hin.«
    »Nein, später. Sie müssen die Befragung und die Erstuntersuchung lernen. Das verbietet zwar das medizinische Gesetz, aber irgendwann muss ich ja schlafen. Die Kranken kommen rund um die Uhr. Groß wird der Schaden nicht sein, wenn Sie die Erstuntersuchung machen, Sie – ein Mann im weißen Kittel. Wer weiß denn, ob Sie Sanitäter, Feldscher, Arzt, Akademiemitglied sind, Sie werden noch in den Memoiren auftauchen als Arzt des Abschnitts, des Bergwerks, der Verwaltung.«
    »Und Memoiren wird es geben?«
    »Unbedingt. Wenn irgendetwas Wichtiges sein wird, wecken Sie mich. Also«, sagte der Arzt, »fangen wir an. Der Nächste.«
    Ein nackter, schmutziger Kranker saß vor uns auf dem Hocker. Er sah nicht aus wie ein anatomisches Modell, sondern wie ein Skelett.
    »Eine gute Schule für Feldscher, was?«, sagte der Arzt. »Und für Ärzte auch. Übrigens, ein Mediziner muss ganz andere Dinge sehen und wissen. Alles, was wir heute vor uns haben, ist eine Frage der engen, überaus spezifischen Qualifikation. Und wenn unsere Inseln – haben Sie mich verstanden? – unsere Inseln in der Erde versinken würden … Schreiben Sie, Krist, schreiben Sie.
    Geburtsjahr 1893. Geschlecht – männlich. Ich lenke Ihre Aufmerksamkeit auf diese wichtige Frage. Geschlecht – männlich. Diese Frage beschäftigt den Chirurgen, den Pathologen, den Morgue-Statistiker, den Demographen in den Metropolen. Doch sie beschäftigt keineswegs den Kranken selbst, ihm ist sein Geschlecht egal …«
    Mein Tintenfass klapperte.
    »Nein, der Kranke muss nicht aufstehen, bringen Sie ihm heißes Wasser zum Durstlöschen. Schneewasser aus dem Behälter. Er wärmt sich, und dann gehen wir an die Analyse der ›vita‹, die Daten über die Krankheiten der Eltern«, der Arzt klopfte mit dem Druckformular auf die Krankengeschichte,

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