Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Territorium an der Kolyma zu gefährlich, Gedichte konnte man riskieren, aber nicht Prosaaufzeichnungen. Das ist der Hauptgrund, warum ich an der Kolyma nur Gedichte schrieb. Zwar hatte ich auch ein anderes Vorbild, den englischen Schriftsteller Thomas Hardy , der die letzten zehn Jahre seines Lebens nur Gedichte schrieb und auf die Fragen der Reporter antwortete, ihn treibe das Schicksal Galileis um. Hätte Galilei in Versen geschrieben, hätte er keine Unannehmlichkeiten mit der Kirche gehabt. Ich wollte dieses Galileische Risiko nicht eingehen, wenn auch selbstverständlich nicht aus Erwägungen der literarischen und historischen Tradition, mein Häftlingsinstinkt gab mir einfach ein, was gut ist und was schlecht, wo es warm ist und wo kalt im Blindekuhspiel mit dem Schicksal.
Und wirklich, ich war hellsichtig gewesen: Winokurow fuhr ab, und einen Monat später wurde Sawodnik irgendwo in die Bergwerke geschickt, wo er übrigens schon bald das Ende seiner Haftzeit erlebte. Aber Hellsichtigkeit war nicht nötig gewesen. All das ist sehr einfach und elementar in jener Kunst oder Wissenschaft, die sich Leben nennt. Das ist das Einmaleins.
Wenn ein Mensch wie Sawodnik freigelassen wird, muss er Null Komma Null auf seinem persönlichen Häftlingskonto haben. So war es auch bei Sawodnik. Aufs Große Land ließ man ihn natürlich nicht, und er fand Arbeit als Dispatcher beim Fahrzeugstützpunkt in Sussuman. Auch wenn man ihm als ehemaligen
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nicht die Nordzulagen zahlte, reichte der Satz zum Leben.
Im Winter einundfünfzig brachte man mir einen Brief. Die Ärztin Mamutschaschwili brachte mir einen Brief von Pasternak an die Kolyma. Und so machte ich mich – ich hatte Urlaub genommen, ich arbeitete als Feldscher in der Transportverwaltung – mit angehaltenen Fahrzeugen auf die Reise. Der Tarif fürs Mitfahren – die Fröste hatten schon begonnen – war ein Rubel pro Kilometer. Ich arbeitete damals bei Ojmjakon, dem Kältepol, und schlug mich von dort durch bis Sussuman. In Sussuman traf ich auf der Straße Sawodnik, den Dispatcher beim Fahrzeugstützpunkt. Was gäbe es Besseres? Um fünf Uhr morgens setzte mich Sawodnik ins Führerhaus eines riesigen »Tatra« mit Anhänger. Ich stellte den Koffer in den Wagenkasten – ich hätte auch im Kasten fahren können, aber der Fahrer wollte die Bitte seines Chefs erfüllen und setzte mich ins Führerhaus. Ich musste es riskieren und den Koffer aus den Augen lassen.
Der »Tatra« flog.
Das Fahrzeug fuhr unbeladen, bremste an jeder Siedlung und nahm Mitfahrer auf. Die einen stiegen aus, andere stiegen ein. In einer kleinen Siedlung hielt ein Soldat den »Tatra« an und setzte zehn Mann Soldaten vom Festland hinein – junge Leute, die zum Militärdienst kamen. Sie alle hatten noch nicht die heftige nördliche Sonnenbräune abbekommen, waren nicht verbrannt von der Sonne der Kolyma. Nach etwa vierzig Kilometern kam ihnen ein Militärfahrzeug entgegen und wendete. Die Soldaten luden die Sachen um und fuhren los. Ich war irgendwie aufgeregt, misstrauisch. Ich bat den Fahrer anzuhalten und schaute in den Wagenkasten. Kein Koffer war da.
»Das sind die Soldaten«, sagte der Fahrer. »Aber wir holen sie ein, sie entkommen uns nicht.«
Der »Tatra« dröhnte auf, brummte und stürzte auf der Trasse voran. Nach einer halben Stunde hatte der »Tatra« das Fahrzeug mit den Soldaten tatsächlich eingeholt, und der Fahrer überholte den SIS und schnitt ihm mit dem »Tatra« den Weg ab. Wir erklärten, was los ist, und ich fand meinen Koffer mit dem Brief Pasternaks.
»Ich habe den Koffer einfach als unseren ausgeladen, ganz ohne Absicht«, erklärte der Unteroffizier.
»Nun, ohne Absicht heißt ohne Absicht – wichtig ist das Ergebnis.«
Wir waren bei Adygalach angekommen, und ich suchte ein Fahrzeug nach Ojmjakon oder Baragon.
Im Jahr siebenundfünfzig wohnte ich schon in Moskau und erfuhr, dass Sawodnik zurückgekehrt ist und im Ministerium für Handel auf derselben Stelle arbeitet wie vor zwanzig Jahren. Das erzählte mit Jarozkij, der Leningrader Ökonom, der zu Winokurows Zeiten sehr viel für Sawodnik getan hat. Ich dankte, ließ mir von Jarozkij Sawodniks Adresse geben, schrieb hin und bekam eine Einladung zu einem Treffen – gleich auf der Arbeit, wo ein Passierschein bestellt wird, und so weiter. Der Brief war unterschrieben mit der mir bekannten kalligraphischen Verzierung. Auf ein Haar, nicht eine einzige überflüssige Schleife. Hier erfuhr ich, dass Sawodnik
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