Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
zuweisen musste. Gebäude brauchte auch die berüchtigte »Gruppe W«, auf Zeit von der Arbeit Befreite, deren Zahl immer größer und größer wurde. Tod ist Tod, wie man ihn auch erklärt. In den Erklärungen kann man lügen und die Ärzte zwingen, die verschlungensten Diagnosen zu erfinden – die ganze Klaviatur mit Endungen auf »ose« und »itis«, wenn es nur irgendeine Möglichkeit gibt, sich auf Nebensächliches zu beziehen und das Offensichtliche zu bemänteln. Doch selbst dann, wenn das Offensichtliche nicht zu bemänteln war, eilten dem Arzt »Polyavitaminose«, »Pellagra«, »Dysenterie«, »Skorbut« zu Hilfe. Niemand wollte das Wort Hunger aussprechen. Erst in der Zeit der Leningrader Blockade erschien in pathologischen und seltener in klinischen Diagnosen der Terminus »alimentäre Dystrophie«. Er ersetzte sofort die Polyavitaminosen und machte die Sache einfacher. Gerade zu dieser Zeit gewann im Lager eine Zeile aus Vera Inbers »Pulkowo-Meridian« große Popularität:
Das Brennen einer Kerze, die zergeht,
Die trockenen Symptome, Zeichen dessen,
Was unsere Ärzte auf gelehrt
Alimentäre Dystrophie zu nennen wissen.
Und was der Nichtlateiner, der Nichtphilologe
Auf Russisch sagt, mit der Vokabel »Hunger«.
Leider war Professor Umanskij außer Pathologe auch Philologe und Lateiner. Viele Jahre schrieb er die wunderlichen »osen« und »iten« in die Sektionsprotokolle.
Aleksandr Gogoberidse war schweigsam, bedächtig – im Lager hatte er Zurückhaltung und Geduld gelernt, er hatte gelernt, einen Menschen nicht nach seiner Kleidung zu empfangen, nach der Wattejoppe und der BAM-Lager -Mütze, sondern nach einer ganzen Reihe unerklärbarer, aber sicherer Zeichen. Die Sympathien stützen sich gerade auf diese nicht zu fassenden Zeichen. Die Menschen haben einander noch nicht zwei Worte gesagt, aber spüren eine gegenseitige seelische Zuneigung oder Feindschaft, oder Gleichgültigkeit, oder Vorsicht. »In Freiheit« verläuft dieser Prozess langsamer. Hier aber entstehen diese unbewussten Sympathien oder Antipathien überzeugter, schneller, unfehlbarer. Die gewaltige Lebenserfahrung des Lagerinsassen, die Gespanntheit seiner Nerven und die große Einfachheit der menschlichen Beziehungen, die große Einfachheit der Menschenkenntnis ist der Grund für die Unfehlbarkeit solcher Urteile.
In der Krankenhausbaracke – einem Gebäude mit zwei Ausgängen, mit einem Korridor in der Mitte – gab es Zimmerchen, sogenannte »Kabäuschen«, die man leicht zu einer Kammer, einer kleinen Apotheke oder einer Krankenhaus»box« machen konnte – zu einem Isolator. Ärzte und Feldscher, die selbst Häftlinge waren, wohnten gewöhnlich auch in diesen »Kabäuschen«. Ein sehr bedeutendes praktisches Privileg.
Die »Kabäuschen« waren winzig, zwei mal zwei oder zwei mal drei Meter. Im Zimmerchen stand dort ein Bett, ein Nachttisch, manchmal etwas wie ein winziger Tisch. In der Mitte des »Kabäuschens« wurde winters wie sommers ein kleines Öfchen geheizt, wie die Öfchen in den Fahrerkabinen an der Kolyma. Dieser Ofen und das Holz dafür – die Holzklötzchen – nahmen auch nicht wenig vom Wohnraum ein. Aber trotzdem war es ein eigener Wohnraum – wie eine separate Wohnung in Moskau. Ein kleines Fensterchen, mit Gaze bezogen. Den gesamten übrigen Raum des »Kabäuschens« nahm Gogoberidse ein. Von gewaltigem Wuchs, breitschultrig, dickarmig und dickbeinig, immer mit kahlgeschorenem Kopf, großohrig, war er einem Elefanten sehr ähnlich. Der weiße Feldscherkittel saß stramm an ihm und verstärkte den »zoologischen« Eindruck. Nur Gogoberidses Augen waren nicht die eines Elefanten – grau, schnell, Adleraugen.
Gogoberidse dachte Georgisch, sprach aber Russisch, langsam die Worte wählend. Er verstand und erfasste den Kern des Gesagten sofort – das sah man am Glanz der Augen.
Ich denke, er war weit über sechzig, als wir uns 1946 trafen, bei Magadan. Die großen Hände waren aufgedunsen, greisenhaft bläulich. Er lief langsam, fast immer am Stock. Die Brille für Weitsichtige, die »Alters«brille wurde mit geübter Hand aufgesetzt. Wir erfuhren bald, dass sich dieser gigantische Körper noch die Geschmeidigkeit der Bewegungen und alles Furchtgebietende bewahrt hatte.
Unmittelbarer Chef von Gogoberidse war Doktor Krol, ein Facharzt für Hautkrankheiten, verurteilt nach einem Sozial-Artikel entweder für Spekulation oder für Betrug. Ein kichernder Kriecher, ein alter Fiesling, der den
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