Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
»müssen Sie nicht sammeln, keine Zeit auf Unsinn verwenden. Aha, hier, durchgemachte Krankheiten: alimentäre Dystrophie, Skorbut, Dysenterie, Pellagra, Avitaminose A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K, L, M, N, O, P, Q, R, S, T, U, V, W, X, Y, Z… Sie können die Aufzählung an beliebiger Stelle unterbrechen. Venerische Krankheiten verneint er, Kontakt zu Volksfeinden verneint er. Schreiben Sie … Wurde aufgenommen mit Klagen über Erfrierungen beider Füße, entstanden durch lange Einwirkung von Kälte auf das Gewebe. Haben Sie geschrieben? Auf das Gewebe … Bedecken Sie sich hier mit einer Decke.« Der Arzt zog eine dünne, mit Tinte befleckte Decke vom Bett des diensthabenden Arztes und warf sie dem Kranken um die Schultern. »Wann bringen sie denn das verdammte kochende Wasser? Er bräuchte süßen Tee, aber weder Tee noch Zucker sind vorgesehen in der Aufnahme. Machen wir weiter. Größe – mittel. Wie groß? Wir haben keine Messlatte. Haare – grau. Ernährungszustand«, der Arzt schaute die Rippen an, auf denen die blasse trockene welke Haut spannte, »wenn Sie einen solchen Ernährungszustand sehen, müssen Sie schreiben ›unter Mittelmaß‹.« Mit zwei Fingern zog der Arzt die Haut des Kranken ab.
»Turgordruck der Haut schwach. Verstehen Sie, was Turgordruck ist?«
»Nein.«
»Die Elastizität. Was hat er auf der Inneren zu suchen? Nichts, das ist ein Chirurgiepatient, nicht wahr? Lassen wir Platz in der Krankengeschichte für Leonid Markowitsch, er wird morgen, vielmehr heute Morgen schauen und schreiben. Schreiben Sie in russischen Buchstaben ›status lokalis‹. Machen Sie einen Doppelpunkt. Der Nächste!«
<1962>
Aleksandr Gogoberidse
So ist das: Erst fünfzehn Jahre sind vergangen, und ich habe den Vatersnamen des Lagerfeldschers Aleksandr Gogoberidse vergessen. Sklerose! Ich dachte, sein Name hätte sich für immer in die Zellen meines Hirns eingraben müssen – Gogoberidse gehörte zu jenen Leuten, auf die das Leben stolz ist, und ich habe seinen Vatersnamen vergessen. Er war nicht einfach Feldscher der Hautabteilung des Zentralen Häftlingskrankenhauses an der Kolyma. Er war mein Professor für Pharmakologie, Dozent auf dem Feldscherlehrgang. Ach, wie schwer war es, einen Lehrer für Pharmakologie zu finden für die zwanzig glücklichen Häftlinge, für die das Lernen auf dem Feldscherlehrgang die Garantie ihres Lebens, ihrer Rettung war. Der Brüsseler Professor Umanskij hatte sich bereiterklärt, Latein zu unterrichten. Umanskij war polyglott, ein glänzender Kenner der orientalischen Sprachen und kannte die Morphologie des Wortes noch besser als die pathologische Anatomie, die er auf dem Feldscherlehrgang las. Übrigens gab es im Kurs für pathologische Anatomie eine Ausnahme. Mit dem Lager ein wenig vertraut (Umanskij saß, wie alle nach den Stalinschen Verfahren der dreißiger oder vierziger Jahre, schon die dritte oder vierte Haftzeit), weigerte sich der Brüsseler Professor kategorisch, seinen Studenten an der Kolyma das Kapitel über die Geschlechtsorgane zu lesen – die männlichen und die weiblichen. Und nicht aus übergroßer Schamhaftigkeit. Kurz, dieses Kapitel wurde den Studenten zur selbständigen Aneignung vorgeschlagen. Für die Pharmakologie hatte es viele Interessenten gegeben, aber es war so, dass der, der diesen Gegenstand unterrichten sollte, »an die Peripherie« oder »in die Tajga« gezogen war, »an die Trasse«, wie man sich zu jenen Zeiten ausdrückte. Die Eröffnung des Lehrgangs hatte sich sowieso hingezogen, und nun gab Gogoberidse – früher Direktor eines großen pharmakologischen Forschungsinstituts in Georgien –, der sah, dass der Lehrgang zu platzen drohte, unerwartet sein Einverständnis. Der Lehrgang wurde eröffnet.
Gogoberidse verstand die Bedeutung dieses Lehrgangs sowohl für die »Studenten« als auch für die Kolyma. Der Lehrgang vermittelte etwas Gutes, säte Vernünftiges. Die Macht des Lagerfeldschers ist groß, der Nutzen (oder Schaden) überaus bedeutsam.
Darüber sprach ich später mit ihm, als ich vollberechtigter Lager-»Knochenklempner« war und zu ihm in sein »Kabäuschen« in der Dermatologie des Krankenhauses kam. Die Krankenhausbaracken wurden nach Einheitsentwürfen gebaut – im Unterschied zu den Gebäuden ferner von Magadan, wo Krankenhäuser und Ambulatorien eine Art »Tajga«-Erdhütten waren. Übrigens war die Sterblichkeit so hoch, dass man die Erdhütten aufgeben und den medizinischen Einrichtungen Wohnbaracken
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