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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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hervor – die übrigen vier blieben in der Reihe. Solowjow hielt das Stellenverzeichnis des Krankenhauses in der Hand.
    »Frauen, vortreten; die anderen – warten!«
    Aus dem Krankenhauskontor führte Solowjow ein Telefongespräch. Die schon gestern bestellten Lastwagen fuhren am Krankenhaus vor.
    Solowjow nahm Kopierstift und Papier.
    »Herkommen und eintragen. Ohne Artikel und Haftdauer. Nur der Name, dort wird man sehen. Los!«
    Und der Chef stellte eigenhändig die Liste für die Etappe zusammen – die Etappe ins Gold, in den Tod.
    »Name?«
    »Ich bin krank.«
    »Was hat er?«
    »Polyarthritis«, sagte die Oberärztin.
    »Solche Wörter kenne ich gar nicht. Eine robuste Stirn. Ins Bergwerk.« Die Oberärztin fing keinen Streit an.
    Krist stand in der Menge, und eine bekannte Erbitterung pochte in seinen Schläfen. Krist wusste schon, was zu tun war.
    Krist stand da und dachte ruhig nach. Wie wenig man dir doch traut, Chef, dass du persönlich die Krankenhausdachböden durchsuchst, mit deinen hellen Augen unter jedes Krankenhausbett schaust. Du könntest doch einfach anordnen, und alle würden auch ohne dieses Spektakel geschickt. Wenn du der Chef bist, der Herr des Lagerbereichs in den Bergwerken, schreibst du dann eigenhändig Listen, fängst eigenhändig ein … Ich werde dir zeigen, wie man flieht. Wenn sie bloß eine Minute zum Fertigmachen geben …
    »Fünf Minuten zum Fertigmachen! Schnell!«
    Auf diese Worte hatte Krist gewartet. In der Baracke, in der er wohnte, holte Krist nicht seine Sachen, er nahm nur die Weste, die Ohrenklappenmütze, ein Stück Brot, Streichhölzer, Machorka und eine Zeitung, kippte seine Notvorräte in die Tasche, steckte eine leere Konservendose in die Weste und ging los, aber nicht zum Lagerhaus, sondern zur Baracke, in die Tajga, nachdem er zuvor den Posten einfach umgangen hatte, einen, für den die Operation, die Jagd schon beendet war.
    Krist lief eine ganze Stunde bachaufwärts, bis er einen sicheren Platz fand, legte sich aufs trockene Moos und wartete.
    Was war das für ein Kalkül? Das Kalkül sah so aus. Wenn das eine einfache Razzia ist – wen man draußen antrifft, der wird in den Wagen gesteckt und ins Bergwerk gefahren –, dann wird man wegen eines Einzelnen den Wagen nicht bis zur Nacht hier halten. Wenn das aber eine regelrechte Jagd ist, dann wird man am Abend nach Krist schicken, ihn nicht einmal ins Krankenhaus hineinlassen und versuchen, Krist zu fassen zu kriegen, ihn auszuheben und hinterherzuschicken.
    Eine neue Haftzeit wird man ihm für ein solches Fernbleiben nicht geben. Wenn die Kugel nicht getroffen hat, als Krist loslief – man hatte gar nicht auf Krist geschossen –, dann wird Krist weiter Sanitäter im Krankenhaus sein. Und wenn ausgerechnet Krist weggeschickt werden soll, dann macht das die Oberärztin auch ohne den Leutnant Solowjow.
    Krist schöpfte Wasser, trank sich satt, rauchte in den Ärmel, streckte sich aus, und als die Sonne sank, lief er die Klamm hinab zum Krankenhaus.
    Auf dem Brettersteg traf er die Oberärztin. Die Oberärztin lächelte, und Krist war klar, dass er leben wird.
    Das tote, entvölkerte Krankenhaus lebte auf. Neue Kranke zogen die alten Kittel an und wurden zu Sanitätern ernannt, vielleicht begannen sie damit ihren Weg zur Rettung. Ärzte und Feldscher gaben Arzneien aus, maßen Fieber und fühlten den Schwerkranken den Puls.
    1965

Furchtlose Augen
    Die Welt der Baracken lag zusammengepresst in einer engen Bergschlucht. War begrenzt von Himmel und Stein. Die Vergangenheit kam durch die Mauer, die Tür, das Fenster herein; innen erinnerte sich niemand an etwas. Innen war die Welt der Gegenwart, die Welt der alltäglichen Kleinigkeiten, die man nicht einmal eitel nennen konnte, denn diese Welt hing von einem fremden, nicht von unserem Willen ab.
    Ich verließ diese Welt zum ersten Mal auf einem Bärenpfad.
    Wir waren eine Erkundungsstation und machten in jedem Sommer, dem kurzen Sommer, Vorstöße in die Tajga – fünftägige Märsche durch die Bachbetten, durch die Arme namenloser Flüsschen.
    Für die Leute in der Station – Gräben, Schächte, Schürfe; für die Leute auf dem Marsch – das Sammeln von Mustern. In der Station sind die Stärkeren, auf dem Marsch die Schwächeren. Also, das ist der ewige Streiter Kalmajew – der Gerechtigkeitssucher, der Verweigerer.
    In der Erkundung wurden Baracken gebaut, und im schütteren Tajgawald die abgesägten acht Meter langen Lärchenstämme abzufahren ist eine

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