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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Schnäuzchen des sterbenden Wiesels.
    Doch die Augen des Wiesels erloschen, und die Erbitterung in seinen Augen verschwand.
    Pikulew kam heran, er beugte sich über das tote Tierchen und sagte:
    »Es hatte furchtlose Augen.«
    Hatte er etwas begriffen? Oder nicht? Ich weiß nicht. Auf dem Bärenpfad liefen wir zum Ufer des Flüsschens, zum Zelt, zum Sammelpunkt. Morgen werden wir den Rückweg antreten – aber nicht auf diesem, auf einem anderen Pfad.
    1966

Marcel Proust
    Das Buch war verschwunden. Der riesige, schwere Foliant, der auf der Bank gelegen hatte, war vor den Augen Dutzender Kranker verschwunden. Wer den Diebstahl gesehen hat – wird es nicht sagen. Es gibt auf der Welt kein Verbrechen ohne Zeugen – belebte und unbelebte Zeugen. Und wenn es so ein Verbrechen doch gäbe? Das Geheimnis des Diebstahls eines Romans von Marcel Proust darf man wohl vergessen. Außerdem bringt eine Drohung zum Schweigen, nebenbei hingeworfen, ohne Adressat und trotzdem zuverlässig wirkend. Wer es gesehen hat, wird schweigen von wegen »ich habe Angst«. Das Wohltätige solchen Schweigens bestätigt das gesamte Leben im Lager und nicht nur im Lager, sondern auch alle Erfahrung des zivilen Lebens. Das Buch konnte irgendein
frajer
gestohlen haben auf Befehl eines Diebes, um seine Kühnheit und seinen Wunsch zu beweisen, der Verbrecherwelt, den Herren des Lagerlebens zuzugehören. Es konnte irgendein
frajer
einfach so stehlen, weil das Buch schlecht lag. Das Buch lag wirklich schlecht: ganz am Rand einer Bank im riesigen Hof des dreistöckigen steinernen Krankenhausgebäudes. Auf der Bank saßen ich und Nina Bogatyrjowa. Hinter mir lagen die Bergkuppen der Kolyma, zehn Jahre Umherwandern durch diese Bergdörfer und hinter Nina – die Front. Das Gespräch, traurig und beklommen, war längst zu Ende.
    An dem sonnigen Tag wurden die Kranken zum Spaziergang geführt – die Frauen getrennt –, und Nina, als Sanitäterin, bewachte die Kranken.
    Ich begleitete Nina bis an die Ecke, lief zurück, die Bank war noch immer leer: Die spazierengehenden Kranken hatten Angst, sich auf diese Bank zu setzen, sie hielten sie für die Bank der Feldscher und Krankenschwestern, der Aufsicht, der Begleitposten.
    Das Buch war verschwunden. Wer wird diese sonderbare Prosa lesen, die fast schwerelose, wie zum Flug in den Kosmos bereite, in der alle Dimensionen verrückt und verschoben sind, in der es nicht Großes und Kleines gibt? Vor der Erinnerung, wie vor dem Tod, sind alle gleich, und der Autor hat das Recht, sich an das Kleid des Dienstmädchens zu erinnern und die Juwelen der Herrin zu vergessen. Die Horizonte der Sprachkunst sind in diesem Roman ungewöhnlich erweitert. Ich, der Kolymabewohner, der
seka
, wurde in eine längst verlorene Welt versetzt, in andere Gewohnheiten, vergessene, überflüssige. Zeit zu lesen hatte ich. Ich, der Feldscher im Nachtdienst. Ich war niedergeschmettert von den »Guermantes« . Mit den »Guermantes«, mit dem vierten Band, begann meine Bekanntschaft mit Proust. Das Buch hatte mein Bekannter, der Feldscher Kalitinskij geschickt bekommen, der schon im Krankensaal herumstolzierte in samtenen Knickerbockern, mit einer Pfeife zwischen den Zähnen, die den unwahrscheinlichen Geruch von Capstan verströmte. Capstan wie Knickerbocker waren im Päckchen gewesen, zusammen mit den »Guermantes« von Proust. Ach, die Ehefrauen, die lieben naiven Freunde! Anstatt Machorka – Capstan, anstatt Hosen aus Englischleder – samtene Knickerbocker, anstatt eines breiten, zwei Meter langen Kamelhaarschals – etwas Luftiges, einer Schleife, einer Fliege Ähnliches, ein üppiger Seidenschal, der sich am Hals zu einem Bindfaden von Bleistiftdicke zusammenrollt.
    Die gleichen Samthosen, den gleichen Seidenschal hatten sie im Jahr siebenunddreißig Fritz David geschickt, dem holländischen Kommunisten, und vielleicht hieß er auch anders, meinem Nachbarn in der RUR – der Rotte mit verschärftem Regime. Fritz David konnte nicht arbeiten, er war zu entkräftet, und die Samthosen und die prachtvolle seidene Krawattenschleife konnte man im Bergwerk nicht einmal gegen Brot eintauschen. Und Fritz David starb – er fiel auf den Barackenboden und starb. Übrigens war es so eng – alle schliefen im Stehen –, dass der Tote nicht gleich am Boden ankam. Mein Nachbar Fritz David starb erst, und dann fiel er hin.
    All das war vor zehn Jahren – was hat die »Suche nach der verlorenen Zeit« damit zu tun? Kalitinskij und ich – wir beide

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