Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
hatte mehr Leute, und er schüttete auch Meere zu und nicht den grundlosen Dauerfrostboden, der im kurzen Sommer an der Kolyma auftaute.
Der Sommerweg war der Winterstraße weit unterlegen, konnte Schnee und Eis nicht ersetzen. Je weiter der Sumpf auftaute, umso grundloser wurde er, umso mehr Steine brauchte es, und all die wechselnden Kranken konnten in drei Sommern den Weg nicht zuverlässig auffüllen. Erst gegen den Herbst hin, wenn die Erde schon vom Frost erfasst war und das Auftauen des Dauerfrostbodens aufhörte, konnte man Erfolg haben mit diesem Dschingis Khanschen Baubetrieb. Das Unsichere dieses Unterfangens war sowohl der Oberärztin als auch den kranken Arbeitern längst klar, aber alle hatten sich schon lange an die Sinnlosigkeit der Arbeit gewöhnt.
Jeden Sommer trugen die genesenden Kranken, die Ärzte, Feldscher und Sanitäter Steine auf diesen verfluchten Weg. Der Sumpf schmatzte, tat sich auf und schluckte, verschluckte diese Steine komplett. Der Weg, bestreut mit weißem funkelndem Kalkstein, war nicht sicher gepflastert.
Das war ein Fenn, Morast, unwegsamer Sumpf, und die Piste, bestreut mit weißem bröckligem Kalkstein, zeigte nur den Weg, gab die Richtung an. Diese fünfhundert Meter konnte der Häftling, der Natschalnik, der Begleitposten von Platte zu Platte, von Stein zu Stein überwinden, mit einem großen Schritt, mit einem Sprung, mit einem Satz. Das Krankenhaus stand auf einer Anhöhe – ein Dutzend einstöckiger Baracken, den Winden von allen vier Seiten ausgesetzt. Eine Zone mit Stacheldraht rund um das Krankenhaus gab es nicht. Zum Abführen der Entlassenen schickte man Begleitposten aus der Verwaltung sechs Kilometer vom Krankenhaus.
Der »Willys« gab Gas, tat einen Sprung und blieb endgültig stecken. Die Soldaten sprangen vom Wagen ab, und jetzt sah Krist etwas Ungewöhnliches. An den alten Mänteln der Soldaten waren ganz neue Schulterstücke . Und bei dem Mann, der aus dem Wagen stieg, waren die Schulterstücke silbern … Krist sah Schulterstücke zum ersten Mal. Nur bei Filmaufnahmen hatte Krist Schulterstücke gesehen, und auch im Kino, auf der Leinwand, und in Zeitschriften wie »Die Sonne Russlands« . Und dann hatte man nach der Revolution, im Halbdunkel der Provinzstadt, in der Krist geboren war, die Abzeichen von den Schultern irgendeines Offiziers gerissen, der auf der Straße erwischt wurde, wie er strammstand vor … Vor wem stand der Offizier? Daran erinnerte sich Krist nicht. Auf seine frühe Kindheit waren eine solche späte Kindheit und Jugend gefolgt – gemessen an der Menge der Eindrücke, ihrer Schärfe und ihrem Lebensernst hätten in jedem Jahr Dutzende Leben Platz gehabt. Krist dachte, dass es auf seinem Weg keine Offiziere und Soldaten gegeben hatte. Jetzt zogen Offiziere und Soldaten den »Willys« aus dem Sumpf. Nirgends war ein Kameramann zu sehen, war ein Regisseur zu sehen, der an die Kolyma gekommen wäre, um ein zeitgenössisches Stück zu inszenieren. Die hiesigen Stücke wurden beständig unter seiner, Krists, Beteiligung gespielt – andere Stücke gingen Krist nichts an. Es war klar, dass der vorgefahrene »Willys«, die Soldaten und der Offizier einen Akt, eine Szene unter Beteiligung Krists spielten. Der mit den Schulterstücken war Fähnrich. Nein, jetzt heißt das anders: Leutnant.
Der »Willys« war über die unsicherste Stelle hinweggesprungen – der Wagen steuerte auf das Krankenhaus zu, auf die Bäckerei, und der einbeinige Bäcker, der dem Schicksal dankte für die Invalidität, für die Einbeinigkeit, sprang heraus und salutierte dem aus der Kabine des »Willys« steigenden Offizier nach Soldatenart. Auf den Schultern des Offiziers funkelten schöne silberne Sternchen, zwei ganz neue Sternchen. Der Offizier stieg aus dem »Willys«, der einbeinige Wächter machte eine schnelle Bewegung, hinkte, sprang irgendwie in die Höhe und zur Seite. Aber der Offizier hielt den Einbeinigen mutig und ohne Ekel an der Steppjacke zurück.
»Nicht nötig.«
»Bürger Natschalnik, erlauben Sie …«
»Nicht nötig, habe ich gesagt. Geh in die Bäckerei. Wir finden uns selbst zurecht.«
Der Leutnant schwenkte die Arme, zeigte nach rechts und links, und drei Soldaten liefen los und bezogen Posten um die plötzlich menschenleere stumme große Siedlung. Der Fahrer stieg aus. Der Leutnant und der vierte Soldat stürmten die Vortreppe der chirurgischen Abteilung.
Von der Anhöhe herunter kam, mit den Absätzen der Soldatenstiefel klappernd, die
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