Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Straßen, die ganze Erde erfüllten.
Am Morgen wartete ich auf die Begegnung mit Sujew – vielleicht gibt er mir etwas zu rauchen.
Und Sujew kam. Ohne sich vor der Brigade, vor dem Begleitposten zu verstecken, zerrte er mich aus dem Unterschlupf in den Wind und brüllte los:
»Du hast mich betrogen, Kanaille!«
In der Nacht hatte er die Eingabe gelesen. Die Eingabe hatte ihm nicht gefallen. Seine Nachbarn, die Vorarbeiter, hatten die Eingabe auch gelesen und nicht gutgeheißen. Zu trocken. Zu wenig Tränen. So eine Eingabe überhaupt zu machen ist nutzlos. Kalinin erweicht man nicht mit solchem Unsinn.
Ich konnte, ich konnte einfach aus meinem vertrockneten Lagerhirn kein einziges überflüssiges Wort herauspressen. Ich konnte den Hass nicht übertäuben. Ich hatte die Arbeit nicht bewältigt, und nicht, weil der Bruch zwischen der Freiheit und der Kolyma zu groß, nicht, weil mein Hirn müde und erschöpft war, sondern weil dort, wo die begeisterten Adjektive gespeichert waren – dort war nichts als Hass. Überlegen Sie, wie der arme Dostojewskij all die zehn Jahre seines Soldatendienstes nach dem Totenhaus betrübte, tränenreiche und erniedrigende, aber die Seelen der Oberen rührende Briefe geschrieben hat. Dostojewskij schrieb sogar Gedichte an die Kaiserin. Im Totenhaus gab es keine Kolyma. Dostojewskij wäre verstummt, genauso verstummt wie ich, der es nicht geschafft hat, Sujews Eingabe zu schreiben.
»Du hast mich betrogen, Kanaille!«, tobte Sujew. »Ich zeige dir, wie man mich betrügt!«
»Ich habe Sie nicht betrogen …«
»Einen Tag lang hast du in der Bude, in der Wärme gesessen. Ich riskiere eine Haftstrafe für dich, du Dreckskerl, für deine Drückebergerei! Ich dachte, du bist ein Mensch!«
»Ich bin ein Mensch«, flüsterte ich, unsicher die blauen erfrorenen Lippen bewegend.
»Ich zeige dir jetzt, was du für ein Mensch bist!«
Sujew streckte die Hand aus, und ich spürte eine leichte, fast schwerelose Berührung, nicht stärker als ein Windstoß, der mich in derselben Grube schon manchmal umgeblasen hat.
Ich fiel hin, schützte mich mit den Händen und leckte mit der Zunge etwas Süßes, Klebriges, das aus den Mundwinkeln sickerte.
Sujew trat mir ein paar Mal mit dem Filzstiefel in die Seite, aber es tat mir nicht weh.
1966
Die Razzia
Der »Willys« mit vier Soldaten bog scharf von der Trasse ab und hüpfte, Gas gebend, über die Krankenhaus-Erdhöcker, über den morastigen, tückischen, mit weißem Kalk bestreuten Weg. Der »Willys« schlug sich durch zum Krankenhaus, und Krist tat das Herz weh vor Aufregung, der bekannten Aufregung bei der Begegnung mit der Leitung, mit den Begleitposten, mit dem Schicksal.
Der »Willys« tat einen Satz und blieb im Sumpf stecken. Von der Trasse bis zum Krankenhaus waren es vielleicht fünfhundert Meter. Dieses Stückchen Weg hatte die Oberärztin mit der sparsamen, mit der staatlichen Methode der Subbotniks gebaut, die an der Kolyma
udarniks
hießen. Eben mit dieser Methode wurden alle Bauprojekte des Fünfjahresplans durchgeführt. Die genesenden Kranken wurden hinausgetrieben auf diesen Weg – einen Stein, zwei Steine, eine Trage Schotter holen. Die kranken Hilfssanitäter – hauptamtliche standen einem kleinen Häftlingskrankenhaus nicht zu – kamen ohne Widerreden zu diesen Subbotniks-
udarniks
, sonst hätte sie die Mine erwartet, die Goldgrube. Zu diesen Subbotniks schickte man niemals Leute, die in der chirurgischen Abteilung arbeiteten – zerschrammte, verletzte Finger machten die Mitarbeiter der chirurgischen Abteilung für lange Zeit einsatzunfähig. Aber um die Lagerleitung davon zu überzeugen, brauchte es eine Weisung aus Moskau. Auf dieses Privileg – sich an den Subbotniks, den
udarniks
nicht zu beteiligen – waren die anderen Häftlinge auf krankhafte, verrückte Weise neidisch. Man könnte meinen, neidisch worauf? Gut, du arbeitest zwei, drei Stunden beim Subbotnik, so wie alle anderen. Aber du siehst, die Kameraden werden befreit von dieser Arbeit, und du wirst nicht befreit. Und das ist maßlos kränkend, das merkt man sich fürs ganze Leben.
Kranke, Ärzte, Sanitäter, jeder holte sich einen Stein und manchmal auch zwei, stellte sich an den Rand des Morasts und warf die Steine in den Sumpf.
Mit dieser Methode baute man Wege, schüttete Dschingis Khan Meere zu, nur hatte Dschingis Khan mehr Leute als die Oberärztin dieses Kreiszentralkrankenhauses für Häftlinge, wie es sich geschraubt nannte.
Dschingis Khan
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