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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Arbeit für Pferde. Aber es gab keine Pferde, und alle Stämme schleppten Menschen, mit Gurten, mit Seilen, wie die Treidler, eins, zwei – hopp. Diese Arbeit gefiel Kalmajew nicht.
    »Ich sehe, Sie brauchen einen Traktor«, sagte er dem Vorarbeiter Bystrow beim Ausrücken. »Sperren Sie doch einen Traktor ins Lager, und dann rücken Sie, dann schleppen Sie die Bäume. Ich bin kein Pferd.«
    Der zweite war der fünfzigjährige Pikulew – ein Sibirjake, ein Zimmermann. Einen stilleren Menschen als Pikulew gab es bei uns nicht. Aber der Vorarbeiter Bystrow hatte mit seinem erfahrenen, im Lager geschärften Auge an Pikulew eine Besonderheit entdeckt.
    »Was bist du für ein Zimmermann«, sagte Bystrow zu Pikulew, »wenn dein Hintern ständig einen Platz sucht. Kaum bist du fertig mit der Arbeit, bleibst du keinen Moment mehr stehen, machst keinen Schritt, sondern setzt dich gleich auf einen Stamm.«
    Dem Alten fiel das Arbeiten schwer, aber Bystrow sprach überzeugend.
    Der dritte war ich – ein alter Feind von Bystrow. Schon im Winter, schon im vergangenen Winter, als ich zum ersten Mal zur Arbeit herausgeführt wurde und zum Vorarbeiter kam, hatte Bystrow mit Vergnügen seinen alten Witz angebracht, in den er seine ganze Seele legte, seine ganze Verachtung, alle Feindseligkeit und den Hass auf Leute wie mich:
    »Und was wünschen Sie für eine Arbeit, feine oder grobe?«
    »Ganz egal.«
    »Feine haben wir nicht. Gehen wir eine Baugrube graben.«
    Und obwohl ich diesen Spruch sehr gut kannte, und obwohl ich alles konnte – ich machte jede Arbeit nicht schlechter als andere und konnte sie anderen beibringen –, behandelte mich der Vorarbeiter Bystrow feindselig. Selbstverständlich bat ich nicht, »kroch« nicht, gab und versprach kein Bestechungsgeld – den Alkohol hätte ich Bystrow abgeben können. Manchmal gab es bei uns Alkohol. Aber, kurz gesagt, als sie einen dritten Mann für den Marsch brauchten, nannte Bystrow meinen Namen.
    Der vierte war ein Vertragsarbeiter, der freie Geologe Machmutow.
    Der Geologe war jung und wusste alles. Unterwegs lutschte er mal Zucker, mal Schokolade, er holte Schiffszwieback und Konserven aus dem Beutel und aß getrennt von uns. Uns versprach er, ein Rebhuhn, ein Birkhuhn zu schießen, und wirklich, auf dem Weg schlugen zwei Mal die Flügel nicht eines Birkhahns, sondern die gewässerten Flügel eines Auerhahns, aber der Geologe war aufgeregt und schoss daneben. Auf fliegende Ziele konnte er nicht schießen. Die Hoffnung darauf, dass er uns einen Vogel schießt, zerschlug sich. Die Fleischkonserven kochten wir für den Geologen in einem getrennten Kessel, aber das galt nicht als Verstoß gegen die Sitten. In den Gefangenenbaracken verlangt niemand, das Essen zu teilen, und hier hatten wir die noch speziellere Situation von zwei Welten. Trotzdem wurden wir alle drei, Pikulew und Kalmajew und ich, in der Nacht vom Knochenkrachen, von Machmutows Schmatzen und Rülpsen wach. Aber das regte uns nicht sehr auf.
    Die Hoffnung auf Wild hatte sich schon am ersten Tag zerschlagen. In der Dämmerung stellten wir das Zelt am Ufer eines Baches auf, der sich als silbernes Fädchen zu unseren Füßen hinzog, und am anderen Ufer war dichtes Gras, dreihundert Meter dichtes Gras bis zum nächsten rechten Felsufer … Dieses Gras wuchs auf dem Grund des Bachs – im Frühjahr war hier alles ringsum überschwemmt, und wie eine Bergaue grünte die Wiese jetzt mit aller Macht.
    Plötzlich merkten alle auf. Die Dämmerung hatte sich noch nicht verdichtet. Durch das Gras, das es zum Schwanken brachte, kam ein Tier gelaufen – ein Bär, ein Vielfraß, ein Luchs. Die Bewegung im Grasmeer konnten alle sehen: Pikulew und Kalmajew nahmen eine Axt, und Machmutow, der sich als Held von Jack London fühlte, nahm das Kleinkalibergewehr von der Schulter und hielt es schussbereit: Es war mit einem
shakan
geladen, einem Stück Blei zum Empfang des Bären.
    Doch das Gebüsch war zu Ende, und auf dem Bauch kriechend und schwanzwedelnd kam der Welpe Genrich auf uns zu – der Sohn unserer erschossenen Hündin Tamara.
    Der Welpe war zwanzig Kilometer durch die Tajga gerannt und hatte uns eingeholt. Wir beratschlagten und scheuchten den Welpen zurück. Er begriff lange nicht, warum wir ihn so grob empfangen. Aber schließlich begriff er und tauchte wieder ins Gras, und das Gras bewegte sich wieder, diesmal in umgekehrter Richtung.
    Die Dämmerung verdichtete sich, und unser nächster Tag begann mit Sonne und

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