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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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er davon, mit niemandem beriet er sich – weder mit seinen Kindern, noch mit den Frauen, die ihm nahestanden. Die Frau, mit der er die letzten Jahre lebte, eine Ärztin aus seinem Krankenhaus, hatte von ihrem ersten Mann Kinder – zwei Schulmädchen, und Rjurikow wollte, dass auch diese seine Familie ein bisschen besser leben sollte. Das war der zweite Grund für ihn, eine so große Reise zu unternehmen.
    Es gab noch einen dritten Grund, einen Kleine-Jungen-Traum. Es war so, dass Oberstleutnant Rjurikow sein Leben lang nichts gesehen hatte, nichts, außer den Kreis Tuma im Moskauer Gebiet, wo er geboren war, und Moskau selbst, wo er aufgewachsen war, studiert hatte und arbeitete. Selbst in seinen jungen Jahren vor der Heirat und während des Studiums an der Universität hatte Rjurikow keinen einzigen Urlaub und keine einzigen Ferien anders verbracht, als bei seiner Mutter im Kreis Tuma. Es war ihm unpassend, unanständig erschienen, zum Urlaub in einen Kurort oder irgendwohin sonst zu fahren. Er fürchtete zu sehr die eigenen Gewissensbisse. Seine Mutter lebte lang, zum Sohn übersiedeln wollte sie nicht, und Rjurikow verstand sie – die ihr gesamtes Leben in ihrem Heimatdorf verbracht hatte. Die Mutter starb unmittelbar vor dem Krieg. An die Front kam Rjurikow nicht, obwohl er Militäruniform anlegte, und den ganzen Krieg über war er Lazarettchef in Moskau.
    Er war weder im Ausland noch im Süden, im Osten oder im Westen gewesen und dachte oft, dass er jetzt bald sterben und so im Leben nichts mehr sehen würde. Besonders aufregend und interessant fand er die Arktisflüge und überhaupt das ganze ungewöhnliche, romantische Leben der Eroberer des Nordens. Nicht nur Jack London, den der Oberstleutnant sehr mochte, nährte in ihm das Interesse am Norden, sondern auch die Flüge von Slepnjow und Gromow und die Drift der »Tscheljuskin« .
    Würde er etwa so sein Leben verleben, ohne das Schönste gesehen zu haben? Und als man ihm eine Reise in den Norden für drei Jahre anbot – begriff Rjurikow gleich, dass das die Erfüllung all seiner Wünsche war, dass das ein Glück war, die Belohnung für all seine vieljährige Arbeit. Und er sagte zu, ohne sich mit irgendjemandem zu beraten.
    Ein Umstand nur machte Rjurikow stutzig. Man berief ihn in ein Häftlingskrankenhaus. Natürlich wusste er, dass es im Hohen Norden ebenso wie im Fernen Osten, im nahen Süden und im nahen Westen Arbeitslager gibt. Aber er würde die Arbeit unter freiem Personal vorziehen. Dort jedoch gab es keine offenen Stellen, und außerdem lagen auch die Gehälter der freien Ärzten für die Häftlinge viel höher – und Rjurikow ließ die Zweifel fallen. In den zwei Gesprächen, die die Leitung mit dem Oberstleutnant geführt hatte, war dieser Aspekt der Sache keineswegs verbrämt, nicht verschleiert, sondern im Gegenteil unterstrichen worden. Man hatte die Aufmerksamkeit des Oberstleutnants Rjurikow sehr ernstlich darauf gelenkt, dass dort Volksfeinde, Feinde der Heimat gehalten werden, die heute den Hohen Norden kolonisieren, Kriegsverbrecher, die jeden Moment der Schwäche, der Unentschlossenheit seitens der Leitung für ihre gemeinen, arglistigen Zwecke nutzen, sodass man die größte Wachsamkeit beweisen müsse gegenüber diesem »Kontingent«, so drückte sich die Leitung aus. Wachsamkeit und Festigkeit. Aber Rjurikow solle nicht erschrecken. Treue Helfer werden ihm alle freien Mitarbeiter des Krankenhauses sein, ein umfängliches Kollektiv von Parteimitgliedern, das unter den sehr schwierigen Bedingungen des Nordens arbeitet.
    Rjurikow hatte in den dreißig Jahren Verwaltungsarbeit bei seinen Untergebenen etwas anderes gesehen. Die Veruntreuungen von staatlichem Inventar, die gegenseitigen Intrigen, das Saufen hingen ihm zum Hals heraus. Rjurikow freute sich über diesen Bericht, man rief ihn quasi in den Krieg gegen die Feinde des Staates. Er wird auf seinem Gebiet seine Pflicht erfüllen können. Rjurikow kam mit dem Flugzeug in den Norden, in einem weichen Sessel. Geflogen war der Oberstleutnant auch noch nie – er hatte es niemals gemusst, und das Gefühl war großartig. Rjurikow wurde nicht übel, nur bei der Landung wurde ihm etwas schwindlig. Er bedauerte aufrichtig, früher nicht geflogen zu sein. Die Felsen und die reinen Farben des nördlichen Himmels begeisterten ihn. Er wurde fröhlich, fühlte sich fast wie ein Zwanzigjähriger und wollte auch nicht ein paar Tage bleiben, um die Stadt ein wenig kennenzulernen – es zog ihn

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