Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
auf dem Boden absetzend, mal ihn hochziehend, die zwei Kilometer bis zum Anleger geführt, an dem das Boot lag und eine große Gruppe Passagiere zusammengekommen war – etwa zehn Mann. Es dauerte mindestens eine Stunde, vielleicht auch zwei. Der riesige Fettwanst näherte sich dem Boot, stieg ins Steuerhaus und ließ den Motor der »Kawasaki« an. Das Boot erbebte, aber bis zur Abfahrt war es noch sehr weit. Nach allerlei Schütteln und Warmreiben nahmen die Hände des Motorbootfahrers die gewohnte Stellung am Steuerrad ein. Neun Passagiere von zehn (der zehnte war ich) stürzten zum Steuerhaus und beschworen ihn, abzubrechen und nach Hause zurückzukehren. Die Zeit der Ebbe war verpasst, wir kämen nicht pünktlich nach Magadan. Wir würden sowieso umkehren oder im offenen Meer driften müssen. Zur Antwort ertönte ein Gebrüll des Fahrers, er werde alle Passagiere in den Mund und in die Nase … und er, der Fahrer, werde die Flut nicht verpasst. Die »Kawasaki« schoss ins offene Meer, und die Frau des Motorbootfahrers lief die Passagiere mit der Mütze ab, »für einen auf den Rausch« – ich gab einen Fünfer. Und stieg auf Deck, um zu schauen, wie die Seehunde und Wale spielen und wie Magadan näherkommt. Magadan war nicht in Sicht, aber ein Ufer, ein felsiges Ufer, das wir ansteuerten, ansteuerten und nicht erreichen konnten.
»Spring, spring«, hörte ich plötzlich den Rat einer Frau, die nicht zum ersten Mal auf dem Seeweg Ola-Magadan reiste, »spring, spring, ich werfe dir die Koffer zu, hier kommst du noch auf den Boden.«
Die Frau sprang und streckte die Arme hoch. Das Meer reichte ihr bis zum Gürtel. Weil klar war, dass die Flut nicht wartet, warf ich meine beiden Koffer ins Meer – und hier dankte ich den Ganoven für ihren weisen Rat –, und sprang selbst, spürte den glitschigen, aber festen, sicheren Grund des Ozeans. In den Wellen fing ich meine Koffer auf, die nicht nur dem Meersalz, sondern auch dem Gesetz des Archimedes ausgesetzt waren, und machte mich auf den Weg zum Ufer, folgte den Reisegefährten, die mit den Koffern über dem Kopf dem Ufer zustrebten, überholte die Wellen der Flut und schlug mich durch ans Pier der Wesjolaja-Bucht – von Ola und dem Bootsfahrer hatte ich mich verabschiedet, für immer. Der Bootsfahrer, der sah, dass sich alle Passagiere wohlbehalten an die Anlegestelle durchgeschlagen hatten, wendete die »Kawasaki« und verschwand Richtung Ola – um das auszutrinken, was noch übrig war.
1973
Der Oberstleutnant des Medizinischen Dienstes
An die Kolyma brachte den Oberstleutnant Rjurikow die Angst vor dem Alter – er ging auf die Pensionierung zu, und die nördlichen Gehälter waren doppelt so hoch wie in Moskau. Der Oberstleutnant des Medizinischen Dienstes Rjurikow war weder Chirurg noch Internist, noch Venerologe. In den ersten Jahren der Revolution war er – als Student an der Arbeiterfakultät – an die Medizinische Fakultät der Universität gekommen, hatte als Neuropathologe abgeschlossen, aber alles längst vergessen – niemals, nicht einen Tag hat er als behandelnder Arzt gearbeitet, er war immer in der Verwaltung gewesen, als Oberarzt des Krankenhauses, als Leiter. Und jetzt kam er hierher als Chef eines großen Häftlingskrankenhauses – des Zentralkrankenhauses mit tausend Betten. Nicht dass ihm das Gehalt des Chefs eines der Moskauer Krankenhäuser nicht gereicht hätte. Oberstleutnant Rjurikow war weit über sechzig, und er lebte allein. Seine Kinder waren erwachsen, alle drei arbeiteten irgendwo als Ärzte, aber Rjurikow wollte nichts davon wissen, vom Geld der Kinder zu leben oder ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen. Schon in der Jugend hatte er hierzu die feste Überzeugung entwickelt, niemals von jemandem abhängig zu sein, und wenn es so kommt, lieber zu sterben. Es gab einen weiteren Aspekt der Sache, von dem Oberstleutnant Rjurikow sogar vor sich selbst zu schweigen bemüht war. Die Mutter seiner Kinder war längst gestorben – vor dem Tod aber hatte sie Rjurikow das sonderbare Wort abgenommen, niemals wieder zu heiraten. Rjurikow hatte der Toten dieses Wort gegeben und es seitdem, seit seinem fünfunddreißigsten Jahr, streng gehalten und niemals auch nur versucht, über eine andere Entscheidung in dieser Frage nachzudenken.
Ihm schien, sobald er anders darüber dächte, würde er etwas so Schmerzliches und Heiliges berühren, schlimmer als jede Lästerung. Dann gewöhnte er sich daran, und es fiel ihm nicht schwer. Niemandem erzählte
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