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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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besuchen. Dort gab es Fischfang – und also zu essen. Dort gab es Jagd – und wieder zu essen. Dort gab es landwirtschaftliche Betriebe – zu essen zum dritten. Dort gab es Hirschherden – zu essen zum vierten.
    Diese Hirschherden – außerdem hatte Bersin zu Beginn der Tätigkeit von Dalstroj wohl noch Yaks hergebracht – machten dem Staat nicht geringe Sorgen. Sie erforderten gewaltige Zuwendungen. Unter den zahlreichen Kuriosa erinnere ich mich gut an jahrelange hoffnungslose Anstrengungen von Dalstroj, Schäferhunde zum Hirschehüten abzurichten. Die Schäferhunde, die in der gesamten Union mit dem größtem Erfolg Menschen bewachten, Lageretappen führten, in der Tajga nach Flüchtigen suchten – sie versagten völlig dabei, eine Hirschherde zu bewachen, und die örtliche Bevölkerung musste die Hirschherden mit ihren gewöhnlichen Polarhunden hüten. Dieses erstaunliche historische Faktum ist kaum jemandem bekannt. Was war da los? Ist im Hirn der Schäferhunde ein Programm für Menschen angelegt, aber nicht für Hirsche? Ist das so? Die Gruppenjagd beispielsweise der Wölfe in den Hirschherden enthält alle Elemente des Bewachens von Hirschen. Aber kein Schäferhund, nicht einer, konnte lernen, die Herde zu hüten. Weder ließen sich die erfahrenen umerziehen, noch aus den Welpen Hüter statt Jäger heranziehen. Der Versuch scheiterte, die Natur obsiegte ganz und gar.
    Dorthin, in dieses Hirsch-, Fisch- und Beeren-Ola, hatte ich mir zu fahren gewünscht. Natürlich, dort waren die Sätze halb so hoch wie im Lager, bei Dalstroj, aber dafür wurden Faulenzer, Diebe und Trinker dort von Staats wegen bekämpft, sie wurden einfach aus dem Rayon nach Magadan verwiesen, auf den Boden von Dalstroj, wo andere Gesetze galten. Der Vorsitzende des Exekutivkomitees hatte das Recht zu einer solchen Ausweisung – ohne Verfahren und Untersuchung –, der Rückführung des Gerechten in die sündige Welt. Diese Anordnung betraf natürlich nicht die »Autochthonen«. Diese Ausweisung wurde auf unkompliziertem Weg vollzogen – nach Magadan waren es auf dem Seeweg hundert, durch die Tajga dreißig Kilometer. Ein Milizionär nahm den Sünder beim Arm und führte ihn ins Fegefeuer des Magadaner Durchgangslagers, wo auch für Freie das Transitlager war, der »Karpunkt« – mit denselben Rechten wie für die Häftlinge. All das zog mich an, und ich akzeptierte den Reiseschein nach Ola.
    Aber wie gelangt man nach Ola? Natürlich wird man mir Tagegelder zahlen von der Stunde an, seit mir der Reiseschein von der wohlriechenden Hand eines Leutnants, Inspektor der Kaderabteilung, aus dem Schalterfenster herausgereicht wurde, doch der Winter kommt hier schnell, ich wollte an meinen Arbeitsplatz gelangen – denn Neulinge lässt man nicht in Ola selbst. Ein Fahrzeug anhalten? Diese Entscheidung vertraute ich der Institution der öffentlichen Meinung an, nach der Methode von Gallup , und befragte alle Nachbarn, die mit mir in der Kaderabteilung in der endlosen Schlange standen – 99,9% waren für das Boot. Ich entschied mich für das Boot, es fuhr in der Wesjolaja-Bucht ab. Hier hatte ich märchenhaftes, erstaunliches Glück. Ich traf auf der Straße Boris Lesnjak, der mir mit seiner Frau Sawojewa so viel geholfen hat in einem meiner Hungerjahre, der pharaonischen mageren Jahre.
    Es gibt in der Wissenschaft vom Leben den bekannten Ausdruck »Glückssträhne«. Ein Glück kann klein sein oder groß. Ein Unglück, heißt es, kommt selten allein. Auch ein Pech kommt selten allein. Am nächsten Tag, als ich überlegte, wie ich auf das Boot komme, traf ich ebenfalls auf der Straße Jarozkij, den ehemaligen Hauptbuchhalter im Krankenhaus. Jarozkij arbeitete in der Wesjolaja-Bucht, seine Frau erlaubte mir, in seiner Wohnung die Wäsche zu waschen, und ich wusch den ganzen (Tag) mit Vergnügen das, was sich während meines Wegs in den Händen von Oberstleutnant Fragin angesammelt hatte. Und das war ebenfalls ein Glück. Jarozkij gab mir einen Zettel für den Dispatcher. Das Boot ging einmal pro Tag, ich schleppte meine beiden Koffer an Bord, ein Koffer war leer – ich trickste auf Ganovenart –, und im zweiten war mein einziger billiger blauer Anzug, von mir noch als Häftling, damals am Linken Ufer, gekauft, und die Hefte mit Gedichten, dünne Heftchen, schon nicht mehr aus dem Papier von Barkan. Ein Heftchen füllte sich ganz ohne meinen Willen allmählich mit gereimten Versen und sollte keinen Verdacht wecken bei dem, der sie stiehlt.

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