Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Leben brachte, war zweifellos nützlich, und Rjurikow erinnerte sich manchmal mit Ärger und Kränkung an seine Mühen vor dem Krieg: das endlose Überreden, Erklären, Nahelegen, die unverlässlichen Versprechungen der Untergebenen statt eines kurzen Befehls und ganz konzisen Rapports.
Und ihm gefiel an dem Chirurgen Gromow, dass er die Verhältnisse eines Militärlazaretts auf die chirurgische Abteilung des Krankenhauses hatte übertragen können. Er besuchte Gromow – in der Totenstille der Krankenhauskorridore mit ihren blank geputzten Kupferklinken.
»Womit putzt du die Klinken?«
»Mit Preiselbeeren«, rapportierte Gromow, und Rjurikow staunte. Er selbst hatte, um die Knöpfe seines Uniformrocks und seines Mantels zu putzen, aus Moskau eine spezielle Creme eingesteckt. Und hier, so erweist sich, Preiselbeeren.
In der Chirurgie glänzte alles vor Sauberkeit. Die abgeschabten Böden, die geputzten Aluminiumkästen in der Ausgabe, die Schränke mit den Instrumenten …
Doch hinter den Türen der Krankensäle atmete das vielgesichtige Ungeheuer, vor dem sich Rjurikow ein wenig fürchtete. Alle Häftlinge schienen ihm dasselbe Gesicht zu haben: voller Erbitterung, voller Hass …
Gromow öffnete einen der kleinen Krankensäle vor dem Chef. Der schwere Geruch von Eiter und schmutziger Wäsche missfiel Rjurikow; er schloss die Tür und ging weiter.
Heute reisten der frühere Chef und seine Frau ab. Der Gedanke war angenehm, dass er morgen schon selbständiger Chef wäre. Er war allein geblieben in der riesigen Fünfzimmerwohnung mit der breiten Balkon-Veranda. Die Zimmer waren leer, die Möbel des früheren Chefs – wunderbare handgefertigte Spiegelschränke, Sekretäre aus Pseudomahagoni, ein massives geschnitztes Buffet –, all das war der Traum des Besitzers, des früheren Chefs gewesen. Weiche Diwane, irgendwelche Puffs und Stühle – all das war der Besitz des früheren Chefs gewesen. Die Wohnung war kahl und leer.
Oberstleutnant Rjurikow befahl dem Verwalter der Chirurgie, ihm ein Bett und Bettwäsche aus dem Krankenhaus zu bringen, und der Verwalter brachte auf eigene Faust noch einen Nachttisch mit und stellte ihn an die Wand im großen Zimmer.
Rjurikow fing an auszupacken. Aus dem Koffer zog er ein Handtuch und Seife und trug sie in die Küche.
Zuallererst hängte er seine Gitarre mit dem roten verblichenen Band an die Wand. Das war keine gewöhnliche Gitarre. Zu Beginn des Bürgerkriegs, als die Sowjetmacht noch weder Orden noch andere Auszeichnungen hatte, als im Jahr achtzehn Podwojskij in der Presse für die Einführung von Orden eintrat und man ihn als »Überbleibsel des Zarismus« beschimpfte, wurde an der Front für Verdienste im Kampf auch ohne Orden ausgezeichnet – mit einem Gewehr mit Namenszug oder mit Gitarren und Balalaikas.
Und so würdigte man den Rotgardisten Rjurikow für die Gefechte bei Tula – man überreichte ihm eine Gitarre. Rjurikow hatte selbst kein musikalisches Gehör, nur wenn er allein war, zupfte er vorsichtig und ängstlich mal diese, mal jene Saite. Die Saiten erklangen, und der alte Mann kehrte zumindest für einen Moment in die große und ihm teure Welt seiner Jugend zurück. So hatte er seinen Schatz mehr als dreißig Jahre gehütet.
Er bezog sein Bett, stellte den Spiegel auf den Nachttisch, zog sich aus und trat, die Füße in die Pantoffeln geschoben, nur in Unterwäsche ans Fenster und schaute hinaus: Ringsum standen die Berge wie Betende auf den Knien. Als wären viele Menschen hierher zu einem Wundertäter gekommen – um zu beten und um Belehrung und Aufzeigen eines Wegs zu bitten.
Rjurikow kam es vor, als wüsste auch die Natur keine Lösung für ihr Schicksal, als suchte auch die Natur nach Rat.
Er nahm die Gitarre von der Wand, und im leeren nächtlichen Zimmer wirkten die Akkorde besonders klangvoll, besonders feierlich und bedeutsam. Wie immer beruhigte ihn das Zupfen der Saiten. Die ersten Entscheidungen wurden hier, bei diesem nächtlichen Spiel auf der Gitarre, durchdacht. Er fand den Willen für ihre Ausführung. Er legte sich aufs Bett und schlief sofort ein.
Morgens, noch vor Beginn seines Diensttages im neuen, geräumigen Kabinett, rief Rjurikow Leutnant Maksimow zu sich, seinen Stellvertreter in der Wirtschaftsabteilung, und sagte, dass er nur eines der fünf Zimmer bewohnen wird – das größte. In die anderen solle man ruhig jene Mitarbeiter einziehen lassen, die keinen Wohnraum haben. Leutnant Maksimow war unschlüssig und
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