Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
Vom Netzwerk:
Aber sie wurden nicht gestohlen. Das Boot legte zu einer bestimmten Stunde ab und brachte mich nach Ola, ins Tuberkulosekrankenhaus für die »Autochthonen«. Im Hotel, in einer Baracke war auch die Kreissanitätsabteilung mit einer jungen Ärztin als Leiterin untergebracht. Die Leiterin war auf einer Dienstreise, und ich musste zwei, drei Tage warten. Ich machte mich mit Ola bekannt.
    Ola war leer und lautlos. Die Keta- und die Buckellachse zogen von den Laichplätzen zurück ins offene Meer, mit derselben Eile, mit derselben stürmischen Leidenschaft, durch die Klamm zu hechten. Dieselben Jäger warteten in denselben Verstecken. Die gesamte Siedlung – Männer, Frauen, Kinder, Chefs und Untergebene – alle standen am Fluss in diesen Tagen des Einbringens der Fischernte. Fischfabriken, Räuchereien, Pökelkammern arbeiteten rund um die Uhr. Im Krankenhaus blieb nur, wer Dienst hatte, alle genesenden Kranken waren auch beim Fisch. Von Zeit zu Zeit fuhr ein Fuhrwerk durch die staubige Siedlung, auf dem in einem riesigen Kasten aus Zweimeterbrettern ein silbernes Meer von Keta- und Buckellachsen plätscherte. Jemand schrie mit verwegener Stimme: »Senka, Senka!« Wer konnte an diesem verrückten Erntetag schreien? Ein Faulenzer? Ein Schädling? Ein Schwerkranker?
    »Senka, gib mir einen ordentlichen Fisch!«
    Und ohne das Fuhrwerk anzuhalten, die Zügel für einen Moment aus den Händen legend, warf Senka einen riesigen, zweimeterlangen, in der Sonne funkelnden Ketalachs in den Staub. Ein Alter aus dem Ort, der Nachtwächter und diensthabende Feldscher, (sagte), als ich zu verstehen gab, dass ich gern etwas essen würde, wenn es etwas gibt:
    »Was hätten wir denn? Es gibt noch Suppe aus Ketalachs, von gestern, aber Keta-, nicht Buckellachs. Sie steht da. Nimm und wärme sie dir auf. Aber du isst sie bestimmt nicht. Wir zum Beispiel essen keine gestrige.«
    Nachdem ich einen halben Napf der gestrigen Suppe gegessen und mich ausgeruht hatte, ging ich ans Ufer zum Baden. Das Baden im Ochotskischen Meer – dass es schmutzig, kalt und salzig war, war bekannt, doch für meine Allgemeinbildung schwamm ich ein bisschen.
    Die Siedlung Ola war staubig. Das fahrende Fuhrwerk wirbelte Berge von Staub auf. Aber es war schon lange heiß, und ob sich dieser Staub in steinartigen Lehm verwandelt, wie zum Beispiel im Gebiet Kalinin , habe ich so niemals erfahren. An dem Tag, den ich in der Siedlung Ola zubrachte, konnte ich zwei Eigenheiten dieses nördlichen Paradieses kennenlernen.
    Eine ungewöhnliche Menge Hühner einer italienischen Rasse, weißflügelige Leghorns, alle Halter hielten nur diese Rasse, offensichtlich wegen der Legeleistung. Ein Ei kostete damals auf dem Basar in Magadan hundert Rubel. Und weil alle Hühner ähnlich aussehen, färbte jeder Halter die Flügel seiner Hühner. Mit einer Kombination von Farben, wenn die sieben Farben nicht ausreichten – die Hühner waren bunt gezeichnet wie die Fußballspieler auf (Massen-)Wettkämpfen und (erinnerten) an eine Parade von Staatsflaggen oder eine geographische Karte. Kurz, an alles, was du willst, bloß nicht an eine Hühnerschar.
    Das zweite waren gleichartige Zäune an allen Häuschen. Die Zäune drückten sich sehr eng ans Gebäude, die Gehöfte waren winzig, trotzdem waren es Gehöfte. Und weil geschlossene Bretter- oder Stacheldrahtzäune ein Privileg des Staates waren und der russische Staketenzaun den Besitzern nicht sicher genug, waren in Ola die Zäune sämtlicher Häuser mit alten Netzen behängt. Das sorgt für Schönheit und Kolorit, so als wäre die ganze Welt von Ola zum sorgfältigen Studium auf Millimeterpapier gesetzt: Die Fischernetze bewachten die Hühner.
    Ich hatte einen Reiseschein auf die Insel Siglan – im Ochotskischen Meer, aber die Leiterin der Kreisabteilung wollte mich »mit meinem Fragebogen« nicht haben und schickte mich zurück nach Magadan. Einen großen Schaden empfand ich nicht – ich hatte meine Papiere bekommen. Zufällig sind diese meine Reisescheine erhalten geblieben. Ich musste nach Magadan gelangen, mit demselben Boot, das mich hergebracht hatte. Das war nicht einfach, und nicht darum, weil ich ein passloser Landstreicher oder ehemaliger
seka
war.
    Der Motorbootfahrer wohnte direkt in Ola, und ihn in sein Boot, an seine Arbeit zu bugsieren erwies sich als sehr schwierig. Nach drei Tagen Suff und Vor-Anker-Liegen des Bootes wurde der Motorbootfahrer schließlich untergehakt und aus der heimischen Hütte langsam, mal ihn

Weitere Kostenlose Bücher