Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
zur Arbeit.
Der Chef der Sanitätsverwaltung gab ihm seinen persönlichen SIS-110 , und der Oberstleutnant traf im Zentralkrankenhaus ein, das fünfhundert Kilometer von der örtlichen »Hauptstadt« liegt.
Von der Ankunft des Oberstleutnants hatte der liebenswürdige Chef der Sanitätsabteilung nicht nur das Krankenhaus unterrichtet. Der frühere Chef war in Urlaub aufs »Festland« gefahren und hatte die Wohnung noch nicht geräumt. Neben dem Krankenhaus, dreihundert Meter von der Chaussee entfernt, war das sogenannte Direktionshaus, eine der Reiseunterkünfte für die oberste Leitung – für die Generalsränge.
Dort verbrachte Rjurikow eine Nacht, betrachtete staunend die gestickten Samtvorhänge, die Teppiche, die aus Bein geschnitzten Gegenstände, die zahlreichen riesigen geschnitzten Schränke für handgearbeitete Kleidung.
Seine Sachen packte Rjurikow nicht aus, am Morgen trank er reichlich Tee und ging ins Krankenhaus.
Das Gebäude des Krankenhauses war kurz vor dem Krieg für eine Militäreinheit gebaut worden. Allerdings stellte das große, dreistöckige »T«-förmige Gebäude inmitten der nackten Felsen einen zu bequemen Orientierungspunkt für feindliche Flugzeuge dar (die Technik war weit fortgeschritten, während die Frage des Baus entschieden wurde und das Bauen selbst voranschritt) – und der Besitzer brauchte das Gebäude nicht mehr und übergab es der Medizin.
In der kurzen Zeit, während das Regiment auszog und das Gebäude ohne Aufsicht blieb, wurden die Kanalisation und die Wasserleitung zerstört und das Kohleelektrizitätswerk mit zwei Kesseln völlig untauglich gemacht. Kohle wurde nicht angefahren, alles Holz, das man verheizen konnte, wurde verheizt, und für den Abschiedsabend der Armee verheizte man im Elektrizitätswerk sämtliche Stühle aus dem Zuschauersaal.
Die Sanitätsverwaltung hatte all das allmählich wieder hergestellt – dank der kostenlosen Arbeit der kranken Häftlinge, und jetzt bot das Krankenhaus einen imposanten Anblick.
Der Oberstleutnant betrat sein Kabinett und war verblüfft von seinen Dimensionen. Noch niemals hatte er in Moskau ein Kabinett von solcher Geräumigkeit gehabt. Das war kein Kabinett, sondern, nach Moskauer Maßstäben, ein Konferenzsaal für hundert Personen.
Die Wände der Nachbarzimmer waren eingerissen und die Zimmer zusammengelegt worden, die Fenster bedeckten Leinenvorhänge mit wunderbarer Stickerei, und die rote Herbstsonne glitt über die goldenen Bilderrahmen, über die Lederpolster der handgefertigten Diwane und ging über die polierte Fläche des ungewöhnlich groß bemessenen Schreibtischs.
All das gefiel dem Oberstleutnant. Es drängte ihn, die Sprechzeiten bekanntzugeben, das sofort zu tun war jedoch unmöglich und gelang erst nach zwei Tagen. Der frühere Chef hatte auch keine Zeit verlieren wollen bei seinem Aufbruch – das Flugticket war längst bestellt, noch früher, als Oberstleutnant Rjurikow aus der Hauptstadt abgereist war.
Diese zwei Tage sah er sich die Leute und das Krankenhaus an. Im Krankenhaus gab es eine große innere Abteilung, geleitet von dem Arzt Iwanow, ehemaliger Militärarzt und ehemaliger Häftling. Die neuropsychiatrische Abteilung leitete Pjotr Iwanowitsch Polsunow, ebenfalls ehemaliger Häftling, wenn auch Kandidat der Wissenschaften . Das war die Kategorie von Menschen, die besonderen Verdacht weckte, und darauf hatte man Rjurikow schon in Moskau aufmerksam gemacht. Das waren Leute, die einerseits durch die Schule des Lagers gegangen waren, zweifellos Feinde, und die andererseits das Recht auf die Gesellschaft der freien »Vertragsarbeiter« hatten. »Denn ihr Hass auf den Staat und die Heimat endet ja nicht mit dem Tag, an dem sie das Dokument über ihre Freilassung bekommen«, dachte der Oberstleutnant. »Und doch haben sie ja ein anderes Recht, eine andere Position, die mich nötigt, ihnen zu vertrauen.« Beide Leiter und früheren Häftlinge gefielen dem Oberstleutnant nicht – er wusste nicht, wie sich zu ihnen verhalten. Dafür gefiel Rjurikow der Leiter der chirurgischen Abteilung, Regimentschirurg Gromow, außerordentlich – er war Freier, wenn auch parteilos, hatte gekämpft, und hier in der Abteilung standen alle vor ihm stramm – was könnte besser sein.
Rjurikow selbst hatte den Armeedienst, noch dazu in der Rolle des Mediziners, nur während des Krieges gekostet – darum gefiel ihm die militärische Subordination mehr als nötig. Jenes Element von Organisation, die sie ins
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