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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Tintenlöscher, der auf dem Tisch des Chefs stand – ein handgefertigter Kremlturm mit roten Plastiksternen –, und trocknete sorgsam die Unterschrift des Oberstleutnants.
    So ging es weiter bis zum Mittagessen, und nach dem Mittagessen ging der Chef durchs Krankenhaus. Doktor Gromow, rotes Gesicht, weiße Zähne, wartete schon auf den Chef.
    »Ich möchte Ihre Arbeit sehen«, sagte der Chef. »Zeigen Sie, wen entlassen Sie heute?«
    In Gromows allzu geräumiges Kabinett zogen in langen Reihen die Kranken. Zum ersten Mal sah Rjurikow jene, die er behandeln sollte. Reihen von Skeletten bewegten sich vor ihm.
    »Haben Sie Läuse?«
    Der Kranke zuckte die Schultern und sah Doktor Gromow verstört an.
    »Erlauben Sie, das sind doch chirurgische … Warum sind sie denn derart …?«
    »Das ist nicht unsere Sache«, sagte fröhlich Doktor Gromow.
    »Sie entlassen sie?«
    »Wie lange soll ich sie denn halten? Und der Liegetag?«
    »Und wie kann man ihn hier entlassen?« Rjurikow zeigte auf einen Kranken mit dunklen eitrigen Wunden.
    »Ihn – er hat Brot von seinen Nachbarn gestohlen.«
    Oberst Akimow war angereist, der Chef jenes unbestimmten Truppenteils – eines Regiments, einer Division, eines Korps, einer Armee –, der über den riesigen Raum des Nordens verteilt war. Dieser Truppenteil hatte einmal das Krankenhausgebäude gebaut – für sich selbst. Akimow war jugendlich für seine fünfzig Jahre, straff und fröhlich. Fröhlicher geworden war auch Rjurikow. Akimow brachte seine kranke Frau, »niemand kann ihr helfen, so eine Geschichte, aber ihr habt ja Ärzte.«
    »Ich werde gleich Anordnung geben«, sagte Rjurikow, er klingelte, und Anna Petrowna zeigte sich in der Tür mit dem Ausdruck vollkommener Bereitschaft zur Erfüllung der weiteren Anordnungen.
    »Beeilen Sie sich nicht«, sagte Akimow. »Ich werde hier nicht das erste Jahr behandelt. Wem wollen Sie meine Frau vorstellen?«
    »Nun, wenigstens Stebelew.« Stebelew war der Leiter der Inneren.
    »Nein«, sagte Akimow. »So einen Stebelew habe ich zu Hause auch. Ich möchte, dass Sie sie Doktor Gluschakow vorstellen.«
    »Gut«, sagte Rjurikow. »Aber Doktor Gluschakow ist ja Häftling. Meinen Sie nicht …«
    »Nein, ich meine nicht«, sagte Akimow fest, und in seinen Augen war kein Lächeln. Er schwieg. »Wissen Sie«, sagte er, »meine Frau braucht einen Arzt und nicht …«, der Oberst sprach nicht zu Ende.
    Anna Petrowna lief los, um den Einlassschein und die Vorladung für Gluschakow ausfertigen zu lassen, und Oberst Akimow stellte Rjurikow seine Frau vor.
    Bald wurde Gluschakow aus dem Lager herbeigebracht, ein weißhaariger runzliger alter Mann.
    »Guten Tag, Professor«, sagte Akimow, er stand auf und begüßte Gluschakow mit Handschlag, »ich komme mit einer Bitte an Sie.«
    Gluschakow schlug vor, die Frau Akimows in der Sanitätsabteilung des Lagers zu untersuchen (dort habe ich alles bei der Hand, und hier kenne ich mich nicht aus), und Rjurikow rief seinen Stellvertreter für das Lager an, damit man für den Oberstleutnant und seine Frau einen Einlassschein ausstellt.
    »Hören Sie, Anna Petrowna«, sagte Rjurikow zur Sekretärin, als die Gäste gegangen waren. »Ist es wahr, dass Gluschakow ein solcher Spezialist ist?«
    »Jedenfalls solider als unsere«, kicherte Anna Petrowna.
    Oberstleutnant Rjurikow seufzte. Jeder durchlebte Tag seines Lebens war für Rjurikow von einer besonderen, einzigartigen Farbe gefärbt. Es gab Tage der Verluste, Tage der Misserfolge, Tage des Glücks, Tage der Güte, Tage des Mitgefühls, Tage des Misstrauens, Tage der Erbitterung … Alles, was an diesem Tag geschah, trug einen bestimmten Charakter, und Rjurikow konnte manchmal seine Entscheidungen, seine Schritte diesem »Hintergrund« anpassen, der praktisch nicht von seinem Willen abhing. Heute war ein Tag der Zweifel, ein Tag der Enttäuschungen.
    Oberst Akimows Bemerkung hatte etwas Wesentliches, Grundlegendes in Rjurikows jetzigem Leben berührt. Ein Fenster hatte sich geöffnet, an dessen Existenz sich Rjurikow bis zum Besuch von Oberst Akimow nicht hatte entschließen können zu denken. Es hatte sich gezeigt, dass dieses Fenster nicht nur existierte, man konnte darin etwas sehen, das Rjurikow niemals zuvor gesehen, bemerkt hatte.
    Alles an diesem Tag bestätigte Oberst Akimow. Der neue, provisorische Leiter der Chirurgie, der Arzt Braude trug vor, dass die Hals- und Ohren-Operationen, die für den heutigen Tag vorgesehen waren, verlegt seien, weil der

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