Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Stolz des Krankenhauses – die scharfsinnige Diagnostikerin und Chirurgiekünstlerin Adelaida Iwanowna Simbirzewa – eine alte Spezialistin, Schülerin des berühmten Wojatschek, die vor Kurzem zur Arbeit an das Krankenhaus gekommen war – »Betäubungsmittel eingepfiffen« hat, wie sich Braude ausdrückte, und jetzt tobt sie im Behandlungsraum der Chirurgie. Sie zerschlägt alles Glas, das ihr unter die Finger kommt. Was tun? Kann man sie fesseln, einen Begleitposten rufen und sie in die Wohnung bringen?
Oberstleutnant Rjurikow verfügte, Adelaida Iwanowna nicht zu fesseln, sondern ihr den Mund mit einem Umschlagtuch zu verbinden, sie nach Hause zu bringen und dort einzuschließen. Oder ihr ein Schlafmittel einzuflößen – doppeltes Chloralhydrat, unbedingt die doppelte Dosis – und sie schlafend wegzutragen. Nur sollen Freie sie führen und tragen, nicht Häftlinge.
In der neuropsychiatrischen Abteilung hatte ein Kranker seinen Nachbarn mit einer angespitzten Eisenpike umgebracht. Doktor Pjotr Iwanowitsch, der Leiter, teilte mit, dass der Mord durch eine blutige Feindschaft unter Kriminellen hervorgerufen war, beide Kranken – der Mörder wie der Ermordete – waren Diebe.
In der Inneren Abteilung bei Stebelew hatte der Verwalter, ein Häftling, vierzig Laken gestohlen und verkauft. Lwow, der Bevollmächtigte, hatte diese Laken schon aufgefunden, unter einem Boot, am Flussufer.
Die Leiterin der Frauenabteilung forderte für sich eine Offiziersration, und über ihre Frage wurde irgendwo in der Hauptstadt entschieden.
Aber das Unangenehmste war eine Mitteilung Anissimows, des Stellvertreters für das Lager. Anissimow hatte lange auf dem tiefen Lederdiwan in Rjurikows Kabinett gesessen und gewartet, bis der Besucherstrom versiegte. Und als sie allein waren, sagte er:
»Und was, Wassilij Iwanowitsch, soll mit Ljusja Popowkina geschehen?«
»Mit was für einer Ljusja Popowkina?«
»Ja, wissen Sie denn nicht?«
Wie sich zeigte, war sie eine Ballerina, ein Häftling, mit der Semjon Abramowitsch Smolokurow, der frühere Chef, sich eingelassen hatte. Sie arbeitete nirgends und hatte nur dem Vergnügen Smolokurows gedient. Jetzt (»fast einen Monat«, dachte Rjurikow) war sie noch immer ohne Arbeit – es fehlte an einer Verfügung.
Rjurikow hatte das Bedürfnis, sich die Hände zu waschen.
»Was denn für eine Verfügung? Schicken Sie sie sofort zum Teufel.«
»Ins Straflager?«
»Warum denn unbedingt ins Straflager? Ist sie denn schuld? Und auch dir werde ich einen Verweis erteilen – einen ganzen Monat hat sie nicht gearbeitet.«
»Wir haben sie aufgehoben«, sagte Anissimow.
»Für wen?« Und Rjurikow stand auf und lief durchs Zimmer.
»Sofort, gleich morgen schicken Sie sie los.«
Als Pjotr Iwanowitsch die schmale Holztreppe in die zweite Etage hinaufstieg, zu Antonina Sergejewna, dachte er, dass er in den zwei Jahren, die sie gemeinsam in diesem Krankenhaus arbeiten, noch nie bei der Oberärztin zu Hause gewesen war. Er lächelte, er verstand, warum er eingeladen wurde. Natürlich, mit dieser Einladung führte man ihn, den ehemaligen Häftling, in die örtlichen »höchsten Kreise« ein. Pjotr Iwanowitsch verstand solche Leute wie Rjurikow nicht, und weil er sie nicht verstand, verachtete er sie. Ihm erschien das als ein besonderer Karriereweg, der Weg des »Ehrenmannes« in großen Anführungszeichen, des »Ehrenmannes«, der nicht mehr und nicht weniger werden will als Chef der Sanitätsverwaltung. Und da ziert und windet er sich und mimt die heilige Unschuld.
Pjotr Iwanowitsch hatte richtig gelegen. Im verrauchten Zimmer war es eng. Hier saßen der Röntgenologe wie auch Mostowoj und der Hauptbuchhalter. Antonina Sergejewna selbst verteilte aus einer Aluminiumkanne aus dem Krankenhaus warmen und dünnen Tee.
»Kommen Sie herein, Pjotr Iwanowitsch«, sagte sie, als der Neuropathologe seinen Segeltuchmantel ausgezogen hatte.
»Fangen wir an«, sagte Antonina Sergejewna, und Pjotr Iwanowitsch dachte: »Noch immer sehr ansehnlich« und schaute in die andere Richtung.
Der Lagerchef sagte:
»Ich habe Sie eingeladen, meine Herrschaften (Mostowoj zog die Brauen hoch), um Ihnen eine unangenehme Nachricht zu überbringen.« Alle lachten, auch Mostowoj lachte, er dachte ebenfalls, dass das etwas Literarisches ist. Mostowoj beruhigte sich, sonst wäre ihm das Wort »Herrschaften« Anlass zur Besorgnis gewesen, selbst wenn es ein Witz oder ein Versprecher war.
»Was sollen wir tun?«, sagte
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