Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
nach Wladiwostok – der klassische Weg der Kolymabewohner mit allen Routinen und einer Terminologie noch aus den Zeiten Sachalins, noch der Zaren-, Nikolajschen Prägung.
Und es gab den zweiten Weg – durch die Tajga bis Aldan, weiter bis zum Lena-Oberlauf und per Dampfer über die Lena. Dieser Weg war weniger populär, aber sowohl Freie als auch Flüchtige erreichten das Große Land auch auf diesem Weg.
Der dritte war der Luftweg. Aber die Arktisflüge von Sewmorput versprachen bei wechselhaftem arktischen Sommerwetter hier nur Überraschungen. Außerdem konnte die Last-»Douglas«, die vierzehn Mann aufnahm, das Transportproblem sichtlich nicht lösen.
Aber die Freiheit ist sehr begehrt, darum hatten es alle eilig, Ganoven wie
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, sich die Papiere ausstellen zu lassen und loszufahren, denn – das verstanden auch die Ganoven – die Regierung kann es sich überlegen und ihre Entscheidung ändern.
Die Lastwagen aller Lager an der Kolyma wurden zum Etappieren dieser trüben Welle eingesetzt.
Und es gab keine Hoffnung, dass man unsere, die Baragoner Ganoven bald losschicken würde.
Da schickte man sie Richtung Lena zur selbständigen Reise lenaabwärts – ab Jakutsk. Die Lena-Dampfschifffahrt stellte den Befreiten einen Dampfer und verabschiedete sie mit erleichtertem Seufzen.
Unterwegs zeigte sich, dass die Lebensmittel nicht ausreichten. Bei der Bevölkerung konnte man nichts eintauschen, denn man hatte nichts zu tauschen, es gab auch keine Bevölkerung, die etwas Essbares verkaufen konnte. Die Ganoven, die den Dampfer und das Kommando (Kapitän und Steuermann) in ihre Gewalt gebracht hatten, beschlossen auf ihrer Vollversammlung: die
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, ihre Mitreisenden auf dem Dampfer, zu Fleisch zu verarbeiten. Die Ganoven waren wesentlich zahlreicher als die
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. Doch selbst wenn die Ganoven weniger gewesen wären, hätte sich an ihrem Beschluss nichts geändert.
Die
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wurden nach und nach geschlachtet und im Schiffskessel gekocht, und bis zur Ankunft waren alle geschlachtet. Übriggeblieben, so scheint mir, war der Kapitän oder der Steuermann.
Die Arbeit in den Bergwerken war zum Stehen gekommen und nahm nur langsam den üblichen Rhythmus auf.
Die Ganoven hatten es eilig – der Fehler konnte bemerkt werden. Auch die Leitung hatte es eilig, sich von dem gefährlichen Kontingent zu trennen. Doch das war kein Fehler, sondern eine vollkommen bewusste Handlung des freien Willens Berijas und seiner Kollegen.
Ich kenne die Einzelheiten dieser Geschichte gut, weil aus Baragon in dieser Etappe ein Kamerad und Mitangeklagter des Invaliden Nowikow fuhr – Blumstejn. Blumstejn sputete sich, den Rädern der Maschine zu entkommen, er versuchte ihren Lauf zu beschleunigen und kam um.
Es gab Befehl aus Magadan – mit allen Mitteln die Beurteilung und Erledigung der Fälle zu beschleunigen. Man richtete Sonderkommissionen ein, eine Art Ausreisetribunale, die die Papiere vor Ort verteilten und nicht in der Verwaltung, in Magadan, um den fürchterlichen und trüben Druck dieser Wellen wenigstens irgendwie zu mildern. Von Wellen, die man nicht menschlich nennen konnte.
Die Kommissionen brachten die fertigen Papiere mit – diesem einen Abschlag, jenem die Umwandlung, einem dritten gar nichts und dem vierten die völlige Freiheit. Die Befreiungsgruppe, so nannte sie sich, hatte in der Lagerregistratur gute Arbeit geleistet.
Unser Lager – eine Transportaußenstelle, in der es viele
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gab – wurde völlig entvölkert. Die angereiste Kommission überreichte in feierlicher Atmosphäre zum selben Blasorchester, dessen Silbertrompeten in den Gruben des Jahres achtunddreißig nach jedem Erschießungsbefehl einen Tusch spielten, mehr als hundert Bewohnern unseres Lagers den Reiseschein ins Leben .
Unter diesen hundert Mann mit Befreiung oder Abschlag auf die Haftzeit (was man auf einem getippten und mit sämtlichen Wappen beglaubigten Formblatt unterschreiben musste) gab es in unserem Lager einen Mann, der nichts unterschrieb und das Formblatt zu seinem Verfahren nicht in die Hand nahm.
Dieser Mann war Michail Iwanowitsch Nowikow, mein Hypertoniker.
Der Text der Berija-Amnestie war an alle Zäune in der Zone geheftet, und Michail Iwanowitsch Nowikow hatte Zeit gehabt, ihn zu lesen, zu bedenken und eine Entscheidung zu treffen.
Nach seinem Kalkül sollte Nowikow komplett und nicht mit irgendeiner Haftverkürzung freigelassen werden. Komplett, wie ein Ganove. In den Papieren aber, die man Nowikow
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