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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Momente der Rückkehr ins Leben. In »Der Pfad« (1967), einer poetischen Skizze, beschreibt der Ich-Erzähler einen einsamen Pfad, den er in der Tajga selbst ausgetreten hat und auf dem er während dreier Sommer Gedichte schrieb. In der titelgebenden Erzählung »Die Auferweckung der Lärche« (1966), die den Zyklus beschließt, sendet der Ich-Erzähler, ein Überlebender der Arbeitslager an der Kolyma, den vertrockneten Zweig einer sibirischen Lärche nach Moskau. Schalamow könnte zu dieser Erzählung angeregt worden sein, als Boris Lesnjak und dessen Frau, die Ärztin Nina Sawojewa, ihm Lärchenzweige aus der Kolyma-Region nach Moskau schickten. In der Erzählung stellt die Empfängerin – erkennbar die Witwe des Dichters Ossip Mandelstam, der auf dem Weg in die Kolyma-Region in einem Durchgangslager bei Wladiwostok gestorben war – diesen Zweig zum Gedenken in ein Glas mit Wasser. Der scheinbar tote Zweig erwacht nach einer gewissen Zeit zu neuem Leben. Er wird zum Symbol des Lebens und der Erinnerung. Der Anblick dieses sibirischen Zweiges, der möglicherweise dem Todesort des Dichters nahe war, bewahrt die Erinnerung und stiftet auf diese Weise Leben. Wer seine Auferweckung ansehen, seinen Duft einatmen werde, schreibt Schalamow im letzten Satz, nehme das »nicht als Erinnerung an Vergangenes, sondern als lebendiges Leben«. In der Formel vom »lebendigen Leben« klingt Christliches an. Das mag verwundern, denn der Priestersohn Schalamow betonte zeitlebens seine Areligiosität. Die Häufigkeit christlicher Motive und Sprachbilder in Gedichten wie Prosawerken deuten darauf hin, dass christliche Denkfiguren vielfach seine Weltwahrnehmung prägen.
    In der Auftakterzählung des letzten Zyklus »Der Handschuh« (1972) stellt Schalamow die Frage von Erinnern und Vergessen im Kontext der Suche nach einer Schreibposition, von der aus sich das im Lager Erlebte zu einer Prosa formen lässt, die »durchlitten ist wie ein Dokument«. Es ist die abgestorbene Haut an den Händen des chronisch unterernährten Häftlings, die sich wie ein Handschuh abziehen lässt und die im Bild des »Handschuhs« zu einem vielschichtigen Symbol wird. Streng genommen bewahrt allein dieser abgestorbene Handschuh das Wissen des Häftlings, da die Spuren des erlittenen Leids regelrecht in ihn eingraviert sind. Der Handschuh aber, der in sechsunddreißig Jahren zum Teil seines Körpers geworden war, »der in Formalin oder Spiritus im Museum liegen sollte«, liegt statt dessen »im anonymen Eis«. An die Stelle der nicht mehr vorhandenen materiellen Spur (des toten Handschuhs) tritt die im Nachhinein (vom neuen Handschuh) geschriebene Erzählung. Sie wird zum Ort, an dem die Erinnerung konstituiert und aufbewahrt wird. Indem Schalamow das identische daktyloskopische Muster auf beiden Handschuhen hervorhebt, bekräftigt er den Dokumentcharakter seiner Prosa. Die Schlusssätze führen das Nachdenken fort und münden in eine prinzipielle Bekräftigung der eigenen schriftstellerischen Grundposition: »An das Böse sich vor dem Guten erinnern. An alles Gute sich hundert Jahre erinnern, an alles Schlechte – zweihundert. Darin unterscheide ich mich von allen russischen Humanisten des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts.« Den Zyklus beschließt die Erzählung »Riva Rocci« (1972), in deren letzter Satz nüchtern ein Einschnitt konstatiert wird, der zugleich einen Rückverweis auf die Selbstverpflichtung zur literarischen Erinnerungsarbeit enthält: »Drei Monate später war ich in Moskau.« Moskau bedeutete Leben.
    Der (Wieder-)Eintritt ins Leben war auch ein Schritt hin zum Schreiben.
    Jorge Semprúns existenzielle Frage »Schreiben oder Leben« stellte sich Schalamow nie in der gleichen Weise. Leben war für ihn identisch mit Schreiben. Und Schreiben bedeutete unmittelbare Teilhabe am Leben.
    Nadeshda Mandelstam hat Warlam Schalamow einmal mit einer Avantgarde-Skulptur aus Eisen verglichen und damit ein Bild gefunden, in dem die Operationen, die das 20. Jahrhundert russischer Geschichte am Menschen vorgenommen hat, gleichnishaft verdichtet sind.

Glossar
    »an den Hügel« – euphemistisch für Friedhof.
    Artikel achtundfünfzig – berüchtigter Paragraph des sowjetischen Strafgesetzbuches, der eine Verurteilung wegen angeblicher konterrevolutionärer Tätigkeit vorsah; Punkt sieben: wegen Sabotage in Wirtschaft, Handel oder Transport; Punkt zehn: wegen Agitation und Propaganda gegen die Sowjetmacht; Punkt elf: wegen jeglicher Art

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