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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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dachten zurück an unsere Welt, an unsere verlorene Zeit. In meiner Zeit gab es keine Knickerbocker, aber Proust hatte es gegeben, und ich war glücklich, die »Guermantes« zu lesen. Ich ging nicht zum Schlafen ins Wohnheim. Proust war wertvoller als der Schlaf. Und Kalitinskij trieb mich auch zur Eile.
    Das Buch war verschwunden. Kalitinskij raste, er war außer sich. Wir kannten uns wenig, und er war sicher, dass ich das Buch selbst gestohlen hatte, um es möglichst teuer weiterzuverkaufen. Diebstahl im Vorbeigehen war Kolymatradition, Hungertradition. Schals, Fußlappen, Handtücher, Brotscheiben, Machorka – Abgeschüttetes, Abgezweigtes – verschwanden spurlos. Stehlen konnten an der Kolyma, nach Kalitinskijs Meinung, alle. Ich dachte das auch. Das Buch war gestohlen. Bis zum Abend konnte man noch abwarten, ob ein Freiwilliger, ein heroischer Zuträger kommt und »pfeift«, sagt, wo das Buch, wer der Dieb ist. Aber der Abend verging, Dutzende Abende, und die »Guermantes« blieben spurlos verschwunden.
    Wenn sie es nicht einem Liebhaber verkaufen – Proustliebhaber unter den Lagerchefs!! Wenn es Verehrer von Jack London gibt in dieser Welt, aber von Proust!! –, dann für Spielkarten: »Guermantes« ist ein wuchtiger Foliant. Das war einer der Gründe, warum ich das Buch nicht auf den Knien hielt, sondern auf der Bank ablegte. Das ist ein dicker Band. Für Spielkarten, für Spielkarten … Man schneidet sie aus, und fertig.
    Nina Bogatyrjowa war eine Schönheit, eine russische Schönheit, die vor Kurzem vom Festland in unser Krankenhaus gebracht wurde. Vaterlandsverrat. Achtundfünfzig eins »a« oder eins »b« .
    »Aus der Okkupation?«
    »Nein, wir waren nicht in der Okkupation. Es war an der Front. Fünfundzwanzig und fünf – das hat mit den Deutschen nichts zu tun. Mit dem Major. Ich wurde verhaftet, der Major wollte, dass ich mit ihm zusammenlebe. Und ich wollte nicht. Dann die Haftstrafe. Die Kolyma. Ich sitze auf dieser Bank. Alles ist wahr. Und alles nicht wahr. Ich wollte nicht mit ihm leben. Da verkehre ich schon lieber mit den eigenen Leuten. Mit dir zum Beispiel …«
    »Ich bin besetzt, Nina.«
    »Das habe ich gehört.«
    »Du wirst es schwer haben, Nina. Wegen deiner Schönheit.«
    »Sie soll verflucht sein, die Schönheit.«
    »Was verspricht dir die Leitung?«
    »Mich als Sanitäterin im Krankenhaus zu behalten. Ich lerne Krankenschwester.«
    »Hier behält man keine Frauen, Nina. Bis jetzt.«
    »Aber mir hat man versprochen, mich hier zu behalten. Ich habe jemanden. Er hilft mir.«
    »Wer ist das?«
    »Geheimnis.«
    »Schau, das ist ein staatliches Krankenhaus, ein offizielles. Niemand hat hier solche Macht. Von den Häftlingen. Arzt oder Feldscher – ganz gleich. Das ist kein Bergwerkskrankenhaus.«
    »Ganz egal. Ich habe Glück. Ich werde Lampenschirme machen. Und dann gehe ich auf den Lehrgang, wie du.«
    Im Krankenhaus wurde Nina behalten, um Lampenschirme aus Papier zu machen. Und als die Lampenschirme fertig waren, schickte man sie wieder in die Etappe.
    »Ist das deine Alte, die mit dieser Etappe fährt?«
    »Ja.«
    Ich sah mich um. Hinter mir stand Wolodja, ein alter Tajgawolf, Feldscher ohne medizinische Ausbildung. Ein ehemaliger Bildungsfunktionär oder Sekretär des Stadtsowjets.
    Wolodja war weit über vierzig, und die Kolyma kannte er schon lange. Auch die Kolyma kannte Wolodja schon lange. Geschichten mit den Ganoven, Bestechungsgelder an die Ärzte. Hierher geschickt hatte man Wolodja zum Lehrgang, um seinen Posten mit Wissen zu untermauern. Wolodja hatte auch einen Nachnamen, offenbar Ragusin, aber alle nannten ihn Wolodja. Wolodja als Beschützer von Nina? Das war zu schrecklich. Hinter meinem Rücken sagte Wolodjas ruhige Stimme:
    »Auf dem Festland damals hatte ich vollkommene Ordnung im Frauenlager. Sobald einer ›pfeift‹, dass du mit einer Frau zusammenlebst, setze ich sie auf die Liste – hopp! Und in die Etappe. Und lade eine neue ein. Lampenschirme machen. Dann ist wieder alles in Ordnung.«
    Nina war abgefahren. Im Krankenhaus war ihre Schwester Tonja geblieben. Die lebte mit dem Brotschneider zusammen – eine lohnende Freundschaft –, mit Solotnizkij, einem kerngesunden brünetten Schönen, einem
bytowik
. Ans Krankenhaus, an die Stelle des Brotschneiders, die Millionengewinne verhieß und erbrachte, war Solotnizkij gegen ein hohes Bestechungsgeld gekommen, das er, so hieß es, dem Krankenhauschef selbst gegeben hat. Alles war gut, aber der brünette

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