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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Schöne Solotnizkij erwies sich als Syphilitiker: Er brauchte eine Auffrischung der Behandlung. Der Brotschneider wurde entlassen und in die Venerologische Männerzone geschickt, das Lager für Geschlechtskranke. Im Krankenhaus hatte Solotnizkij mehrere Monate verbracht, aber nur eine Frau angesteckt – Tonja Bogatyrjowa. Und Tonja wurde in die Verenologische Frauenzone gebracht.
    Das Krankenhaus war in Aufregung. Das gesamte medizinische Personal – zur Analyse, zur Wassermannschen Reaktion . Der Feldscher Wolodja Ragusin hatte vier Kreuze. Der Syphilitiker Wolodja verschwand aus dem Krankenhaus.
    Ein paar Monate später brachte ein Begleitposten kranke Frauen und darunter Nina Bogatyrjowa ins Krankenhaus. Aber Nina fuhr weiter – im Krankenhaus ruhte sie sich nur aus. Man brachte sie in die Verenologische Frauenzone.
    Ich ging hinaus zur Etappe.
    Nur die tief eingefallenen großen braunen Augen – sonst nichts mehr von Ninas früherem Aussehen.
    »Ich fahre jetzt in die Verenologische Zone …«
    »Warum denn in die Verenologische Zone?«
    »Wie, du bist Feldscher und weißt nicht, warum man Leute in die Verenologische Zone schickt? Das sind Wolodjas Lampenschirme. Ich habe Zwillinge bekommen. Sie waren nicht lebensfähig. Sind gestorben.«
    »Die Kinder sind gestorben? Das ist dein Glück, Nina.«
    »Ja, jetzt bin ich frei wie ein Vogel. Kuriere mich ein bisschen. Und hast du das Buch damals gefunden?«
    »Nein, ich habe es nicht gefunden.«
    »Ich habe es genommen. Wolodja wollte gern etwas zu lesen.«
    1966

Die verwaschene Photographie
    Eines der vorherrschenden Gefühle im Lager ist das Gefühl der Uferlosigkeit der Erniedrigung, das tröstliche Gefühl, dass immer, in jeder Situation, irgendjemand schlechter dran ist als du. Diese Stufung ist vielgestaltig. Dieser Trost ist rettend, und vielleicht liegt darin das wichtigste Geheimnis des Menschen verborgen. Dieses Gefühl … Dieses Gefühl ist rettend wie die weiße Fahne, und zugleich ist es Versöhnung damit, womit man sich nicht versöhnen kann.
    Krist hatte sich gerade vor dem Tod gerettet, gerettet bis zum morgigen Tag, nicht mehr, denn der morgige Tag des Häftlings ist ein Geheimnis, das sich nicht enträtseln lässt. Krist ist ein Sklave, ein Wurm, ganz gewiss ein Wurm, denn nur der Wurm, so scheint es, hat in der ganzen Welt des Lebendigen kein Herz.
    Krist liegt im Krankenhaus, die trockene Pellagra-Haut schuppt, die Falten haben in Krists Gesicht sein endgültiges Urteil eingeschrieben. In dem Bemühen, auf dem Grund seiner Seele, in den letzten erhaltenen Zellen seines knochigen Körpers eine Kraft zu finden, eine physische und seelische, um den morgigen Tag zu erleben, zieht Krist den schmutzigen Sanitäterkittel an, fegt die Krankensäle, richtet die Betten, wäscht die Kranken und misst Fieber.
    Krist ist schon ein Gott – und die neuen Hungrigen, die neuen Kranken schauen Krist an wie ihr Schicksal, wie eine Gottheit, die helfen kann, die sie befreien kann – wovon, weiß der Kranke selbst nicht. Der Kranke weiß nur, dass vor ihm ein Sanitäter steht, auch er ein Kranker, der beim Arzt ein Wort einlegen kann, und dann lässt man den Kranken einen weiteren Tag im Krankenhaus liegen. Oder der sogar, wenn er entlassen wird, dem Kranken seinen Posten, seine Schüssel Suppe, seinen Sanitäterkittel überlässt. Und wenn nicht – das ist kein Unglück, Enttäuschungen gibt es viele im Leben.
    Krist hatte den Kittel angezogen und war zur Gottheit geworden.
    »Ich wasche dir das Hemd. Das Hemd. Nachts im Bad. Und trockne es auf dem Ofen.«
    »Hier gibt es kein Wasser. Es wird gebracht.«
    »Dann heb einen halben Eimer auf.«
    Krist wollte schon lange seine Feldbluse waschen. Er hätte sie auch selbst gewaschen, aber er fiel tot um vor Müdigkeit. Die Feldbluse war aus dem Bergwerk – ganz salzig vom Schweiß, Fetzen bloß, keine Bluse. Und vielleicht wird schon die erste Wäsche diese Feldbluse in Staub, in Spreu, in Mulm verwandeln. Eine Tasche war abgerissen, aber die zweite war heil, und darin lag alles, was für Krist irgendwie wichtig und unentbehrlich war.
    Und trotzdem musste man sie waschen. Krist war schließlich im Krankenhaus, war Sanitäter, das Hemd war schmutzig. Krist erinnerte sich, wie man ihn vor einigen Jahren die Kärtchen in der Wirtschaftsabteilung abschreiben ließ – die Kärtchen der Dekaden-Verpflegung, nach Prozentsätzen des Ausstoßes. Und wie alle, die in Krists Baracke lebten, ihn hassten wegen dieser

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