Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
Vom Netzwerk:
Kilometer, sie bringen dich hin. Tu mir den Gefallen. Vierzig Kilometer – das ist eine Stunde Fahrt.«
    Ich willigte ein, stieg in den Kasten irgendeines Fahrzeugs und winkte dem Freund des Aufsehers Iwanow.
    Ich war noch nicht ganz durchgefroren, als das Fahrzeug zu bremsen anfing – die Brücke. Das Linke Ufer. Ich stieg aus.
    Ich musste einen Platz zum Übernachten finden. Dort, wo der Brief war, konnte ich nicht übernachten.
    Ich ging in das Krankenhaus, in dem ich einmal gearbeitet hatte. Aber im Lagerkrankenhaus dürfen sich Fremde nicht aufwärmen, und ich ging nur hinein, um einen Moment im Warmen zu stehen. Ein Bekannter, ein freier Feldscher kam vorbei, und ich bat um eine Übernachtung.
    Am nächsten Tag klopfte ich an der Wohnung, trat ein und bekam den Brief in die Hand, dessen Schrift ich gut kannte – rasch, beschwingt und zugleich klar und leserlich.
    Es war ein Brief von Pasternak .
    1966

Die Goldmedaille
    Im Anfang waren die Detonationen. Aber noch vor den Detonationen, vor der Apothekerinsel, wo das Anwesen Stolypins in die Luft flog, war das Rjasaner Mädchengymnasium, die Goldmedaille. Für ausgezeichnete Erfolge und gutes Betragen.
    Ich suche die Gassen. Leningrad, die Museumsstadt, bewahrt die Züge Petersburgs. Ich werde das Anwesen Stolypins finden auf der Apothekerinsel, die Laternengasse, die Morskaja Straße, den Sagorodnyj Prospekt. Werde in die Trubezkoj-Bastion der Peter und Pauls-Festung gehen, wo das Gericht war und das Urteil, das ich auswendig kann und dessen Kopie mit dem Bleisiegel eines Moskauer Notariatskontors ich kürzlich in den Händen hielt.
    »Im August 1906, als Mitglied einer verbrecherischen Gemeinschaft, die sich selbst Kampforganisation der Sozialrevolutionäre-Maximalisten nennt und sich bewusst zum Ziel ihrer Tätigkeit die gewaltsame Veränderung der vom Gesetz geregelten Grundform des Regierens setzt …«
    »… stellt die notwendige Beihilfe beim Attentat auf das Leben des Ministers für Innere Angelegenheiten mittels Sprengung des von ihm bewohnten Anwesens auf der Apothekerinsel bezüglich der Erfüllung seiner Dienstpflichten …«
    Den Richtern ist nicht nach Grammatik. Die literarischen Fehler solcher Urteile bemerkt man nach fünfzig Jahren, nicht früher.
    »Die Adlige Natalja Sergejewna Klimowa 21 Jahre und die Kaufmannstochter Nadeshda Andrejewna Terentjewa 25 Jahre … der Todesstrafe durch Erhängen zu unterwerfen mit den in Art. genannten Folgen.«
    Was das Gericht unter den »Folgen des Erhängens« versteht, ist nur den Juristen, den Rechtsfachleuten bekannt.
    Klimowa und Terentjewa wurden nicht hingerichtet.
    Der Vorsitzende des Bezirkgerichts erhielt während der Untersuchung ein Bittschreiben des Vaters von Klimowa, einem Rjasaner Rechtsanwalt. Das ist ein Bittschreiben in sehr sonderbarem Ton, weder einer Bitte noch einer Beschwerde ähnlich – etwas wie ein Tagebuch, ein Selbstgespräch.
    »… Ihnen muss mein Gedanke richtig erscheinen, dass Sie es im gegebenen Fall mit einem leichtsinnigen Mädchen zu tun haben, das sich begeistern ließ von der zeitgenössischen revolutionären Epoche.«

    »In ihrem Leben war sie ein gutes, weiches und liebes Mädchen, aber immer leicht zu begeistern. Vor kaum anderthalb Jahren begeisterte sie sich für die Lehre Tolstojs, der das ›töte nicht‹ als wichtigstes Gebot predigte. Zwei Jahre lang etwa führte sie das Leben einer Vegetarierin und verhielt sich wie eine einfache Arbeiterin, die nicht erlaubte, dass das Personal ihr beim Wäschewaschen oder beim Aufräumen des Zimmers oder beim Bödenwischen half, und nun ist sie plötzlich beteiligt an einem schrecklichen Mord, dessen Motiv angeblich in der den zeitgenössischen Bedingungen nicht entsprechenden Politik des Herrn Stolypin liegt.«

    »Ich wage Ihnen zu versichern, dass meine Tochter von Politik absolut gar nichts versteht, sie war offensichtlich eine Marionette in den Händen stärkerer Menschen, denen die Politik des Herrn Stolypin vielleicht tatsächlich in höchstem Maße schädlich erscheint.«

    »Korrekte Ansichten habe ich meinen Kindern zu vermitteln versucht, aber in einer solchen, muss ich bekennen, chaotischen Zeit hat der elterliche Einfluss keinerlei Bedeutung. Unsere Jugend bereitet ihrer Umgebung das größte Unglück und Leid, darunter auch den Eltern …«
    Die Argumentation ist originell. Die beiläufigen Bemerkungen sind sonderbar. Erstaunlich ist der bloße Ton des Briefs.
    Dieser Brief rettete Klimowa. Genauer

Weitere Kostenlose Bücher