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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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respektieren musste. Außerdem hatte man ihn informiert. Hier ist ein sehr geeigneter Teilnehmer. Schikanieren Sie ihn nicht.
    »Nach dem Gesetz muss ich dir«, Bojtschenko war schon zum ›du‹ übergegangen, »drei Fragen stellen und protokollieren. Zwei habe ich schon gestellt. Jetzt die dritte: ›Das periodische Elementensystem von Mendelejew ‹.«
    Ich schwieg und rief mir ins Hirn, in die Kehle, auf Zunge und Lippen alles, was ich über das Periodensystem der Elemente wissen konnte. Natürlich wusste ich, dass Blok mit der Tochter Mendelejews verheiratet war, ich hätte alle Einzelheiten dieses sonderbaren Liebesverhältnisses erzählen können. Aber nicht das brauchte ja der Professor der chemischen Wissenschaften. Irgendwie brummelte ich unter dem verächtlichen Blick des Prüfers etwas sehr entfernt mit dem Periodensystem der Elemente Verbundenes.
    Bojtschenko gab mir eine Drei, und ich hatte überlebt, war der Hölle entkommen.
    Ich schloss den Lehrgang ab und schloss meine Haftzeit ab, erlebte den Tod Stalins und kehrte nach Moskau zurück.
    Bojtschenko und ich haben uns nicht bekannt gemacht und sind nicht ins Gespräch gekommen. Während meiner Zeit im Lehrgang hasste mich Bojtschenko und fand, dass meine Antworten in der Prüfung eine persönliche Beleidigung für den Wissenschaftler waren.
    Bojtschenko erfuhr niemals vom Schicksal meines Chemielehrers, der erschossenen Geisel von Wologda.
    Und dann kamen acht Monate Glück, ununterbrochenes Glück, gieriges Verschlingen und Aufsaugen von Kenntnissen, ein Lernen, bei dem die Testatnote für jeden Teilnehmer das Leben war, und die Dozenten, die das wussten – alle, außer Bojtschenko –, dieser bunten, undankbaren Häftlingsmenge all ihre Kenntnisse, alles Können gaben, das sie bei Arbeiten von nicht geringerem Rang als Bojtschenkos erworben hatten.
    Das Examen fürs Leben war bestanden, das Staatsexamen abgelegt. Wir alle hatten das Recht erhalten, zu behandeln, zu leben, zu hoffen. Ich wurde als Feldscher in die chirurgische Abteilung des großen Lagerkrankenhauses geschickt, behandelte, arbeitete, lebte und verwandelte mich – sehr allmählich – in einen Menschen.
    Es verging ungefähr ein Jahr.
    Überraschend wurde ich zum Krankenhauschef Doktor Doktor gerufen. Das war ein früherer Politabteilungsmann, der sein ganzes Leben an der Kolyma der Beschnüffelung, dem Entlarven, der Wachsamkeit, der Nachforschung, der Denunziation und Verfolgung von nach politischen Artikeln verurteilten Häftlingen gewidmet hatte.
    »Häftling Feldscher Soundso auf ihre Aufforderung …«
    Doktor Doktor war hellblond, rotblond – und trug einen Puschkin-Backenbart. Er saß am Tisch und blätterte in meiner Lagerakte.
    »Erzähl mir doch mal, wie bist du auf diesen Lehrgang gekommen?«
    »Wie ein Häftling auf diesen Lehrgang kommt, Bürger Natschalnik? Er wird gerufen, man holt seine Lagerakte, gibt die Akte dem Begleitposten, setzt ihn in ein Fahrzeug und fährt ihn nach Magadan. Wie denn sonst, Bürger Natschalnik?«
    »Geh weg von hier«, sagte Doktor Doktor, weiß vor Wut.
    <1966>

Der Brief
    Der halbbetrunkene Funker riss meine Tür weit auf.
    »Du hast Post aus der Verwaltung, komm in meine Hütte.« Und verschwand im Dunkeln im Schnee.
    Ich schob die Hasenkörper vom Ofen weg, die ich von meiner Ausfahrt mitgebracht hatte – es hatte eine Unmenge an Hasen gegeben, dass man kaum nachkam, die Schlingen aufzustellen, und das Barackendach war zur Hälfte mit Hasenkörpern belegt, gefrorenen Hasenkörpern … Verkaufen konnten die Arbeiter sie niemandem, sodass das Geschenk – zehn Hasenkörper – nicht zu teuer war und keine Entlohnung, Belohnung verlangte. Aber die Hasen mussten erst aufgetaut werden. Jetzt war mir nicht nach den Hasen.
    Post aus der Verwaltung, ein Telegramm, ein Radiogramm, ein Telefonogramm auf meinen Namen – das erste Telegramm in fünfzehn Jahren. Betäubend und aufregend wie auf dem Dorf, wo jedes Telegramm tragisch ist, mit dem Tod verbunden. Die Einbestellung zur Freilassung – nein, mit der Freilassung hatten sie es nicht eilig, und ich war ja schon lange frei. Ich ging zum Funker in sein befestigtes Schloss, die Station mit Schießscharten und dreifachem Palisadenzaun, mit dreifachem Törchen mit Klinken und Schlössern, die die Frau des Funkers vor mir öffnete, zwängte mich durch die Türen und lief auf die Wohnung des Hausherrn zu. Eine letzte Tür, und ich stand im Geknatter von Flügeln, im Gestank von Vogelmist,

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