Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
gesagt, nicht der Brief rettete sie, sondern der plötzliche Tod Klimows, der diesen Brief soeben geschrieben und abgeschickt hatte.
Der Tod gab der Bittschrift ein solches moralisches Gewicht, überführte den gesamten Gerichtsprozess auf solche moralische Höhen, dass kein einziger Gendarmeriegeneral sich entschlossen hätte, das Todesurteil für Natalja Klimowa zu bestätigen. Ergebendsten Dank!
Auf dem echten Urteil steht folgende Konfirmation: »Den Richterspruch bestätige ich, jedoch für beide Verurteilten mit Ersetzung der Todesstrafe durch die Verbannung und
katorga
-Arbeiten unbefristet mit allen Folgen jener Bestrafung, den 29. Januar 1907. Stellvertretender Oberkommandierender General der Infanterie Gasenkampf. Beglaubigt und überprüft von: Gerichtssekretär Staatsrat Mentschukow. Aufgedrückt das Siegel des Sankt Petersburger Bezirksgerichts.«
In der Gerichtsverhandlung in der Sache Klimowa und Terentjewa gibt es eine in höchstem Grade eigenartige, einmalige Szene, die in den politischen Prozessen Russlands und nicht nur Russlands beispiellos ist. Diese Szene ist im Protokoll des Gerichts in der kargen Formel des Kanzelaristen festgehalten.
Den Angeklagten wurde das letzte Wort gegeben.
Die gerichtliche Untersuchung in der Trubezkoj-Bastei der Peter und Pauls-Festung war sehr kurz – zwei Stunden, nicht mehr.
Die Angeklagten verzichteten auf Widerspruch gegen das Plädoyer des Staatsanwalts. Das Faktum ihrer Beteiligung am Attentat auf Stolypin gaben sie zu, doch bekannten sich nicht schuldig. Die Angeklagten verzichteten darauf, Berufung einzulegen.
Und jetzt in ihrem letzten Wort – vor dem Tod, vor der Hinrichtung gab die »leicht zu begeisternde« Klimowa plötzlich ihrer Natur, ihrem schäumenden Blut nach – sie sagte und tat etwas, wofür der Vorsitzende des Gerichts, das letzte Wort unterbrechend, Klimowa aus dem Gerichtssaal entfernen ließ wegen »unschicklichen Betragens«.
Das Gedächtnis atmet in Petersburg leicht. Schwerer in Moskau, wo das Chamowniki -Viertel von Prospekten zerhackt, die Presnja zerquetscht, das Netz der Gassen zerrissen und die Verbindung der Zeiten gerissen ist …
Die Mersljakowskij-Gasse. Ich war oft in der Mersljakowskij in den zwanziger Jahren, als Student an der Universität. In der Mersljakowskij war das Studentinnenwohnheim – dieselben Zimmer, in denen vor zwanzig Jahren ganz zu Beginn des Jahrhunderts eine Studentin wohnte, die Hörerin des Moskauer Pädagogischen Instituts und künftige Lehrerin Nadja Terentjewa. Aber Lehrerin ist sie doch nicht geworden.
Powarskaja Nr. 6, wo das Meldebuch von 1905 das gemeinsame Wohnen von Natalja Klimowa und Nadeshda Terentjewa festhält – belastendes Ermittlungsmaterial.
Wo ist das Haus, in das Natalja Klimowa drei Ein-Pud-Dynamit-Bomben schleppte – Morskaja 49, Wohnung 4.
Aber war es nicht in der Powarskaja Nr. 6, wo Michail Sokolow , »der Bär«, der Klimowa begegnete, um sie in den Tod und zum Ruhm zu führen, weil es keine vergeblichen Opfer, keine anonyme Heldentat gibt? In der Geschichte geht nichts verloren, nur die Maßstäbe verzerren sich. Und wenn die Zeit den Namen Klimowas verlieren will – werden wir gegen die Zeit ankämpfen.
Wo ist dieses Haus?
Ich suche nach den Gassen. Das ist eine Zerstreuung der Jugend – die Treppen hinaufzusteigen, die von der Geschichte schon markiert, aber noch nicht zum Museum gemacht sind. Ich errate, ich wiederhole die Bewegungen der Menschen, die dieselben Stufen hochgestiegen sind, die an denselben Straßenkreuzungen gestanden haben, um den Gang der Ereignisse zu beschleunigen, den Lauf der Zeit voranzutreiben.
Und die Zeit hat sich vom Fleck bewegt.
Auf den Altar des Sieges legt man Kinder. Das ist eine alte Tradition. Klimowa war 21, als sie verurteilt wurde.
Die Leiden des Herrn, das Mysterium, in dem die Revolutionäre im Theater von Dolch und Degen spielten, sich verkleideten, in Torwegen versteckten, von der Pferdebahn auf den Traber umstiegen, die Fähigkeit, dem Beschatter zu entgehen, war eines der Eintrittsexamina in diese russische Universität. Wer den gesamten Kurs absolviert hatte, kam an den Galgen.
Über all das wurde viel geschrieben, sehr viel, zu viel.
Aber ich brauche ja nicht Bücher, sondern Menschen, nicht die Skizzen der Straßen, sondern stille Gassen.
Im Anfang war die Tat. Im Anfang waren die Detonationen, die Verurteilung Stolypins, drei Pud Dynamit, die in drei Aktentaschen aus schwarzem Leder steckten, und woraus
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