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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Petersb. Mil. Bez. in unbefristete
katorga
umgewandelt.
    Alter 22, stämmiger Körperbau, dunkle Haare, blaue Augen, rosiges Gesicht, russischer Typ.«
    Diese Flucht, die an einem so dünnen Faden hing, dass eine halbstündige Verspätung den Tod bedeutet hätte – gelang glänzend.
    German Lopatin, ein Mann, der etwas von Fluchten verstand, nannte die
katorga
-Häftlinge, die aus dem Nowinskij-Gefängnis geflohen waren, Amazonen. Aus dem Mund Lopatins war dieses Wort nicht einfach ein freundschaftliches, ein wenig ironisches und beifälliges Lob. Lopatin hatte die Realität eines Mythos gespürt.
    Lopatin verstand wie niemand sonst, was die erfolgreiche Flucht aus einer Gefängniszelle bedeutet, in der zufällig und seit Kurzem
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-Häftlinge mit den allerunterschiedlichsten »Verfahren«, Interessen und Schicksalen versammelt waren. Lopatin verstand, dass zur Verwandlung dieses bunten Kollektivs in eine Kampfeinheit mit der Disziplin des Untergrunds, die noch größer ist als die militärische – unbedingt der Wille eines Organisators gehört. Und ein solcher Organisator war Natalja Sergejewna Klimowa.
    Mit den allerunterschiedlichsten »Verfahren«: An dieser Flucht beteiligt war die Anarchistin Marija Nikiforowa, die spätere Atamanin Maruska aus den Zeiten Machnos und des Bürgerkriegs. General Slaschtschow erschoss die Atamanin Maruska. Schon vor langer Zeit hat sich Maruska in die Filmheldin der schönen Banditin verwandelt, aber Marija Nikiforowa war ein echter Hermaphrodit und hätte die Flucht beinahe platzen lassen.
    In der Zelle (Zelle acht!) lebten auch Kriminelle – zwei kriminelle Frauen mit ihren Kindern.
    Das ist dieselbe Flucht, für die die Familie Majakowskij die Kleidung für die Flüchtigen nähte – und Majakowskij selbst saß wegen dieser Sache im Gefängnis (er wurde auf der Polizei zu dieser Sache verhört).
    Die
katorga
-Häfltinge lernten die Drehbücher des künftigen Schauspiels auswendig, paukten sich die chiffrierten Rollen auswendig ein.
    Die Flucht wurde lange vorbereitet. Zur Befreiung der Klimowa selbst reiste ein ausländischer Vertreter des ZK der Sozialrevolutionären Partei an, der »General«, wie ihn die Organisatoren der Flucht Koridse und Kalaschnikow nannten. Die Pläne des Generals wurden abgelehnt. Die Moskauer Sozialrevolutionäre Koridse und Kalaschnikow saßen schon an der »Ausarbeitung«. Das war eine Befreiung »von innen«, durch die
katorga
-Häftlinge selbst. Die Gefängnisaufseherin Tarassowa sollte die
katorga
-Häftlinge befreien und mit ihnen ins Ausland fliehen.
    In der Nacht auf den 1. Juli entwaffneten die
katorga
-Häftlinge die Aufseherinnen und traten hinaus auf die Moskauer Straßen.
    Von der Flucht der Dreizehn, von der »Befreiung der Dreizehn« wurde in Zeitschriften und Büchern viel geschrieben. Diese Flucht – gehört auch in die Chrestomathie der russischen Revolution.
    Es ist der Erinnerung wert, wie der Schlüssel, ins Schlüsselloch der Ausgangstür gesteckt, sich nicht drehen ließ in den Händen Tarassowas, die vorausging. Wie sie kraftlos die Arme sinken ließ. Und wie die festen Finger der katorga
-Insassin Helme Tarassowa den Schlüssel aus der Hand nahmen, ihn ins Schlüsselloch steckten und drehten – und die Tür in die Freiheit öffneten.
    Es ist der Erinnerung wert: Die
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-Häftlinge verließen das Gefängnis, als auf dem Tisch der diensthabenden Aufseherin das Telefon klingelte. Klimowa nahm den Hörer ab und antwortete mit der Stimme der Aufseherin. Der Ober-Polizeimeister sagte: »Wir haben Kenntnis, dass im Nowinskij Gefängnis eine Flucht vorbereitet wird. Ergreifen Sie Maßnahmen.« – »Ihr Befehl wird ausgeführt, Euer Exzellenz. Maßnahmen werden ergriffen.« Und Klimowa legte den Hörer auf die Gabel.
    Der Erinnerung wert ist der ausgelassene Brief der Klimowa – hier ist er, ich halte zwei zerknitterte, noch lebendige Briefbögen in der Hand. Der Brief, geschrieben am 22. Mai an die Kinder, an die jüngeren Brüder und Schwestern, die kleinen Krümel, mit denen die Stiefmutter, Olga Nikiforowna Klimowa, mehrfach zum Besuch Nataschas nach Moskau gekommen war. Diesen Besuch der Kinder im Gefängnis hatte Natalja Sergejewna selbst ausgeheckt. Klimowa fand, dass solche Begegnungen, solche Eindrücke der kindlichen Seele nur nützlich sind. Und so schreibt Klimowa am 22. Mai einen ausgelassenen Brief, der mit Worten endet, die es in keinem einzigen anderen Brief der zu unbefristeter
katorga
Verurteilten

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